Pandemie: Und plötzlich bin ich ratlos

Pandemie: Und plötzlich bin ich ratlos
Ein Jahr Pandemie: Was ist noch richtig, was falsch? Eine Journalistin über ihre wachsende Unsicherheit.
Gabriele Kuhn

Gabriele Kuhn

„Gemengelage“ hat das Zeug zum Wort des Jahres. Ursprünglich ein landwirtschaftlicher Begriff, der „für die Zerstreuung einzelner Ackergrundstücke eines Besitzers über die gesamte Feldmark“ stand. Heute meint es vor allem „eine unübersichtliche Situation, zum Beispiel im Fall widersprüchlicher Interessen und Absichten unterschiedlicher Akteure.“ Aktuell sind mit „Akteure“ auch das SARS-Cov2-Virus und seine superfitten Mutanten gemeint.

Als Journalistin, deren Aufgabe es ist, einzuordnen, Klarheit zu schaffen, solide Antworten auf wichtige Fragen zu geben, bin ich Teil dieser Gemengelage. Umso wichtiger scheint es mir, ehrlich zu sein: Ich habe gerade keinen Schimmer mehr, was richtig und was falsch ist. Es fällt mir zunehmend schwer, die Dinge, Ereignisse und Erkenntnisse einzuordnen, eine Meinung zu haben und aus gelerntem Wissen Schlüsse zu ziehen. Schon gar nicht habe ich solide Antworten auf die brennenden Fragen. Handel offen – ja, nein? Gastro – auf, zu? Theater, Oper – Bühne frei, Vorhang runter? „In der Politik wird Ratlosigkeit oft mit Geduld verwechselt“, meinte der französische Diplomat Roger Peyrefitte. Ich bin zwar keine Politikerin, aber das Bild trifft’s gut, denn ungefähr so fühle ich mich – ich übe mich in Geduld, gleichzeitig schwindet die Klarheit. Weshalb einer meiner meistgesagten Sätze der vergangenen Tage zum Thema so lautet: „Ich weiß es auch nicht." Und das sage ich, trotzdem ich mich immer noch als Optimistin fühle, stets nach Lösungen und Perspektiven suchend. 

Und trotzdem bin ich der Meinung, dass es legitim und wichtig ist, die eigene Ratlosigkeit offen anzusprechen, in einer Zeit, in der die Zahl selbst ernannter Hobby-Virologen und Epidemiologen exponentiell wächst und alle zu wissen glauben, was richtig ist. Beziehungsweise beklagen, was falsch ist, aber gleichzeitig keine Alternative anbieten. Dazu kommen unterschiedliche, mitunter völlig divergente Betrachtungsweisen (was logisch ist): Touristiker sehen die Krise anders als die  Theaterdirektoren, Teenager fühlen anders als ältere Menschen, Personen ohne Kinder haben andere Bedürfnisse als Eltern, Virologen oder Epidemiologen haben einen anderen Blick auf die Krise als Psychologen. Und dennoch äußern sich nahezu alle zum "Pandemiestatus der Nation". In dieser "Gemengelage" einen Standpunkt zu finden, der den gesundheitlichen Bedürfnissen ebenso wie der Gemeinschaft dient, fällt mir immer schwerer. Umso mehr widerstrebt es mir, zu tun als wüsste ich was und hätte einen Plan. Gleichzeitig mag ich nicht jammern. Nur so: Es gibt für mich wesentliche und unverrückbare Säulen, die mir sinnvoll erscheinen: das Tragen von Masken, das Abstandhalten, vor allem und besonders in geschlossenen Räumen, Lüften, Handhygiene etc. Das sitzt. Seit einem Jahr. Und jetzt – testen, testen, testen. Bestens. Doch was das Thema „Lockdown“, die nahe und ferne Zukunft angeht: keine Ahnung.

Ich nicke dort, ich nicke da

Dabei versuche ich mich regelmäßig umfassend zu informieren – ich lese Studien, folge relevanten Wissenschaftlern auf Twitter, lese die Social-Media-Posts von Intensivmedizinern und anderen Ärzten. Ich nicke dort, ich nicke da – und bemerke, wie ich zunehmend schwanke. Vielleicht bin ich aber auch einfach von Meinungen, Wissen und Impressionen überschwemmt. Und wenn ich dann persönliche Berichte von covidbedingten Einzelschicksalen „(Long Covid, Todesfälle) höre oder lese, kann ich auch der Zero-Covid-Idee etwas abgewinnen. Dieser Strategie war ich speziell in jener Phase, als die Zahlen stark stiegen und die Intensivbettenbelegung eskalierte, zugeneigt. Und ebenso als das Thema „ansteckendere Mutationen“ sich zu Jahresbeginn immer deutlicher abzeichnete. Ich dachte, wenn wir jetzt alle die Zähne zusammenbeißen, schaffen wir es, die Zahlen zu drücken, ist ja in anderen Ländern gelungen. Irgendwann war das allerdings gegessen – zu spät. Wir sind wir, in Österreich, im Herzen Europas, nicht auf einer Insel wie Neuseeland.  Also stagnieren die Neuinfektionen auf eher hohem Niveau, gleichzeitig gilt Österreich als Test-Meister und Vorbild in Sachen Nasenbohren und Rachenputzen.

Nun werden Stimmen laut, die eine „Neujustierung des Denkens“ anregen, wie Kollegin Ute Brühl schreibt und den deutschen Philosophen und Ethiker Julian Nida-Rümelin zitiert, der meint, dass die Strategie „Lockdown. Öffnen. Lockdown. Öffnen“ gescheitert sei. Ähnlich Chefredakteurin Martina Salomon in einem Leitartikel: "Der Dauer-Lockdown kann keine Lösung sein." Ich ertappe mich erneut beim Nicken: Hm, ja! Es stimmt, dass dieses Starren auf Inzidenzen eine Angst-Lähmung auslöst, die uns kollektiv runterzieht. Auch deshalb, weil wir den Antworten darauf meist hinterherhecheln. Dazu schrieb der Virologe Andreas Bergthaler (MedUni Wien) auf Twitter: „Vorsichtig formuliert: Wir müssen mehr Ressourcen in ein aktives Krisenmanagement investieren als nur reaktiv akute Brandherde zu bekämpfen.“ In der Realität erleben wir allerdings auf politisch-medialer Ebene unendlich viele „Rechtfertigungstiraden“. Nicht nur das: Fast täglich erreichen uns unterschiedliche Aspekte aus unterschiedlichen Blickwinkeln und oft auch widersprüchliche Fakten. Wo ist das „richtig“, wo das „falsch“? Ich weiß es nicht.

Nun fallen mir die vielen jungen Menschen ein, die Kinder, Pubertierenden und Jugendlichen, denen es nicht gut geht. Die Einsamen, die noch einsamer werden. Ich denke an meinen Lieblingswirten, den kleinen Italiener ums Eck oder das Theater meines Herzens. Eine Zeitlang war’s klar: Dieses Lockdown-Dings können wir, das müssen wir jetzt solidarisch aushalten und stemmen im Sinne des Gemeinwohls – die Jungen, die Kulturschaffenden, die Gastronomen. Wir alle. Man wird’s auch mal ohne Party und Applaus aushalten können. Doch auch das ist längst gegessen – jetzt geht es um Existenzen, um einen Ausblick, um Möglichkeiten und einen gangbaren Weg. Wo er ist? Ich weiß es nicht.

Woran sollen wir glauben?

Es braucht Perspektiven – für alle Beteiligten, auch für mich. Wie sieht Zukunft aus? Was dürfen wir hoffen? Woran sollen wir glauben? Es wäre so wichtig, zumindest ein vages Bild zu erkennen. Weil es helfen würde, etwaige Maßnahmen weiterhin mitzutragen und zu verstehen. Im medizinischen Bereich gibt es den Begriff „Compliance“. Das ist die Bereitschaft von Patienten zur aktiven Mitwirkung therapeutischer Maßnahmen. Auf die Pandemie umgelegt, offenbart sich nun, dass die Compliance sinkt, weil es an Hoffnungsszenarien fehlt, was wohl auch den Virusmutationen geschuldet ist (aber nicht nur). Viele ziehen noch mit, doch die Zahl der Zweifler wächst, und da rede ich keinesfalls von Covid-Leugnern, die uns seit dem Beginn der Pandemie begleiten. Liege ich falsch, wenn auch ich mir leises Zweifeln erlaube und in eine Art Sinnkrise schlittere? Sehe ich zu viele Puzzleteile, aber das große Ganze nicht mehr? Habe ich etwas aus den Augen verloren? Ich weiß es nicht.

Dann schaue ich mich noch einmal um. Und beobachte eine ältere Frau, wie sie mit FFP-2-Maske und Rollator im Garten des Seniorenwohnheims ein paar Schritte macht. Wie lange wurde sie schon nicht mehr von ihren Enkeln oder Urenkeln besucht, was hat sie verloren, was gewonnen? Ihr Überleben, ja. Aber was ist mit ihrem Leben bzw. mit der Qualität ihres Lebens? Anderntags denke ich an die Erzählungen von IntensivpflegerInnen und ihre Angst, erneut an die Grenzen der psychischen und physischen Belastbarkeit zu geraten. Daran, wie es sein muss, wenn der letzte Atemzug getan wurde, aber niemand der Angehörigen dabei sein konnte, um diesem Menschen beizustehen. Das macht mich traurig, auch wenn mir klar ist, dass das Heranziehen punktueller, einzelner Geschichten, nicht als alleingültige Referenz gelten kann. Und dennoch sollte uns bewusst sein, dass wir bei 8312 Covid-19-Toten (Stand 18. Februar, 9.30) stehen.

Die Impfung wird wirken, heißt es – eine Frage der Zeit. Gute Nachrichten kommen aus Israel. Virologen warnen gleichzeitig, dass es gefährlich sein könnte, das Virus und seine Anpassungsfähigkeit zu unterschätzen – ein viel, viel höheres Impf-Tempo wäre gefordert, doch wir hinken nach. Und wieder dieses Gefühl von Ratlosigkeit.

Die knapp 90-jährige Tante sagt, dass es so nicht mehr weitergehen könne und sie die innige Umarmung des Neffen, unlängst, sehr genossen hätte. Seit Herbst war sie kaum draußen, sie wünscht sich nichts sehnlicher als ihren kleinen Braunen und eine Torte in ihrer Lieblingskonditorei. Kleiner Wunsch, der immer dringlicher wird. Sie stellt fest: „Wir werden mit diesem Virus leben müssen, das geht gar nicht anders.“ Ich nicke.  Dann reden wir darüber, was das praktisch bedeuten könnte. Und ich ende wieder einmal mit meinem unendlich lapidaren Satz: „Ich weiß es auch nicht.“

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