"Zuerst wollten wir 200 Menschen aufnehmen. Das war die Kapazität, die wir zur Verfügung hatten. Doch schon innerhalb von zwei Tagen erhöhten wir auf 400", erinnert sich Moshe Kolomoitsev. Sein Telefon habe zu der Zeit rund um die Uhr geläutet. Am Ende waren es um die 1.200 Menschen, die in Unterkünften, die Gemeindemitglieder und zum Teil auch die Israelitische Kultusgemeinde zur Verfügung gestellt hatten, Unterschlupf fanden.
Der junge Rabbiner stammt ursprünglich aus dem ukrainischen Dnipro. Vor circa fünf Jahren verschlug es ihn nach Wien, genauer gesagt zur JRCV, der "Jewish Russian Speaking Community Vienna".
"Unter den jüdischen Gemeinden gibt es nochmal verschiedene Communitys. Das liegt vor allem an den unterschiedlichen Sprachen und Kulturen", erklärt Kolomoitsev. Die russisch bzw. ukrainisch sprechende jüdische Gemeinde zählt in Wien zu den kleineren - zumindest tat sie das bis vor kurzem noch.
Mit dem Beginn von Wladimir Putins blutigem Angriffskrieg auf die Ukraine wurde Ende Februar des Jahres 2022 auch eine der größten Fluchtbewegungen der jüngeren Geschichte Europas losgetreten. Millionen von Menschen wurden zu Vertriebenen, darunter auch viele Juden und Jüdinnen - hatte die Ukraine bis dahin doch eine beachtlich große jüdische Gemeinde.
"In schwierigen Zeiten stärkt sich der Glaube an Gott."
von Rabbiner Moshe Kolomoitsev
Viele haben in den USA und Israel Zuflucht gefunden
"Vor dem Krieg beschränkte sich unsere Community auf um120 bis 150 Menschen. Mittlerweile sind es 600 bis 700 Menschen, die regelmäßig zu den Gottesdiensten und Events, wie dem gemeinsamen Sabbat-Essen jeden Samstag, kommen", erklärt der Rabbiner. Von den anfänglich angekommen ukrainischen Vertrieben seien natürlich nicht alle geblieben. Viele seien weitergezogen, in die USA oder auch nach Israel, aber ein Teil habe sich eben doch in Wien niedergelassen - und in der JRCV Halt gefunden.
"Wenn alles gut läuft, vergisst man eher auf die Religion. In schwierigen Zeiten stärkt sich dafür der Glaube an Gott", so Kolomoitsev. Die nun viel größere Community sei für ihn auch eine Herausforderung, es gebe viel mehr Fragen. Aber für Menschen da zu sein, sei seine "Mission". "So ist nun mal das Leben. Und jeder hat seine Verantwortung. Das ist meine", erklärt der Rabbiner.
Um den Bedürfnissen der auf einmal so stark gewachsenen Gemeinde gerecht zu werden, war schnell auch klar, dass neue Räumlichkeiten hermüssen. Im ersten Bezirk wurde die Gemeinde fündig. Am 21. September eröffnete feierlich das neu geschaffene Zentrum des russischsprachigen Vereins. Auf rund 1.000 Quadratmetern sind eine Synagoge (Beit Eliyahu), ein Kids-Club samt geplanter Nachmittagsbetreuung sowie ein Veranstaltungsraum beheimatet.
Finanziert wurde das ganze großteils durch Spenden. "Es ist ein Irrglaube, dass Vertriebene nicht wohlhabend sein können. Viele, die kamen, waren vermögende Menschen, die ein sehr gutes Leben in der Ukraine hatten", räumt Kolomoitsev ein.
Ob es eigentlich je Spannungen zwischen Russen und Ukrainern in der Gemeinde gab? "Nein", sagt der Rabbiner Kolomoitsev. "Wir haben auch sehr viele Russen in unserer Gemeinde. Die verurteilen den Krieg genauso wie wir."
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