Über 5.000 Fluchtwaisen in einem halben Jahr in Österreich verschwunden
"Schon lange weisen wir auf dieses Problem hin", ärgert sich Lisa Wolfsegger vom Verein asylkoordination österreich. Doch: "Statt wirksame Maßnahmen zu ergreifen, reagiert das Innenministerium nur mit Schulterzucken". Der Grund für Wolfseggers Unmut ist eine besorgniserregende Zahl. 5.140 Fluchtwaisen, die in Österreich um Schutz angesucht haben, sind 2022 bereits verschwunden, wie eine kürzlich veröffentlichte parlamentarische Anfragebeantwortung ergab. Das sind 96 Prozent der Kinder, die von Jänner bis Juli 2022 einen Asylantrag in Österreich gestellt haben.
"Wenn in 7 Monaten umgerechnet eine Anzahl von Kindern, die über 200 Schulklassen füllen, einfach so verschwindet, dann gibt es massiven Erklärungs- und Handlungsbedarf bei der Verwaltung und Regierung", zeigt sich die Expertin für Kinderflüchtlinge schockiert. Die Lage sei ernst, da Kinderhandel auch in Österreich nicht ausgeschlossen werden könne.
"Bei den Kindern schaut niemand hin"
"Derzeit sind Fluchtwaisen lange Zeit auf sich alleine gestellt, sie sind über Monate hinweg nicht kindgerecht in überfüllten Lagern wie Traiskirchen untergebracht. Warum bisher nicht mehr passierte, ist unverständlich. Mit guter Betreuung und rechtlicher Aufklärung könnten viele Fluchtwaisen vom Verschwinden bewahrt werden", ist sich Lisa Wolfsegger sicher. "Angeblich gibt es einen Kampf gegen Menschenhandel, aber bei den Kindern schaut niemand hin".
"Die Zeit des Beobachtens ist vorbei: Laut Regierungsprogramm soll die gesetzliche Obsorge für Fluchtwaisen geregelt werden. Es gibt vernünftige, umsetzbare Vorschläge", unterstreicht Wolfsegger die Forderung der "KIND ist KIND"-Kampagne, die von über 40 Organisationen getragen wird. Mit dieser Kampagne fordere man, dass Fluchtwaisen vom ersten Tag an in die volle Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe kommen - inklusive Rechtsvertretung - denn "Kind ist Kind und jedes Kind braucht eine erwachsene Bezugsperson, unabhängig vom Aufenthaltstitel".
BMI: Tägliche Anwesenheitskontrollen
Im Bundesministerium für Inneres wehrt man sich gegen die Vorwürfe, man würde nichts gegen derartige Probleme unternehmen. "In Österreich werden mehrere kriminalpolizeiliche Schwerpunkte auf mögliche Kinder-Opfer von Menschenhandel gelegt. Weitere Schwerpunktaktionen folgen laufend", heißt es in einer dem KURIER vorliegenden Erklärung. Man verweise daraufhin, dass in den letzten Jahren in Österreich weniger als zehn Fälle identifiziert wurden, wo auch Kinder Opfer von Menschenhandel wurden.
"In den Betreuungseinrichtungen des Bundes werden täglich Anwesenheitskontrollen durchgeführt. Bundesbetreuungseinrichtungen sind keine Orte der Freiheitsentziehung und daher entziehen sich Personen auch dem Verfahren und nehmen keine Betreuungsleistungen mehr in Anspruch", heißt es weiter. Außerdem betont man, dass im Zeitraum von Jänner bis Juli 2022 455 multifaktorielle Altersfeststellungen angeordnet wurden - weil Gründe für eine Volljährigkeit der Person vorlagen.
"Eigentlich weiß niemand genau, wo diese Kinder sind"
Statistiken darüber, wo die abgängigen Minderjährigen wieder aufgefunden würden, werden laut Karner nicht geführt. In der parlamentarischen Anfrage wird auch die Frage danach gestellt, wo die Behörden den Aufenthalt der mittlerweile knapp 6.000 Minderjährigen, die nicht wieder aufgefunden werden konnten, vermuten. Die Antwort dazu lautet: "Meinungen und Einschätzungen unterliegen nicht dem parlamentarischen Interpellationsrecht". Und: "Bei Asylwerbern werden die Fingerabdrücke erst ab 14 Jahren genommen, sodass abgängige Kinder 'offiziell' nicht in anderen Zielstaaten der EU aufscheinen können", ortet das Innenministerium ein weiteres Problem.
"Eigentlich weiß niemand genau, wo diese Kinder sind. Man kann nur Vermutungen dazu anstellen", sagt Lisa Wolfsegger auf KURIER-Anfrage. Die meisten ziehen ihren Angaben nach in andere EU-Mitgliedsländer weiter, wo bereits ihre Familienmitglieder leben. "Die meisten haben Westeuropa im Kopf, Österreich ist für die meisten kein Zielland, sondern nur eine Zwischenstation", sagt Wolfsegger und bezieht sich dabei in erster Linie auf Afghanen und Syrer. Auf Jugendliche aus diesen beiden Ländern würden 85 Prozent der Asylanträge entfallen.
"Viele Afghanen rechnen sich hier keine Asyl-Chancen aus und ziehen deshalb weiter Richtung Westen", sagt Wolfsegger. Dabei werden seit dem vergangenen Jahr so gut wie keine Asylanträge von Menschen aus Afghanistan abgelehnt. "Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Menschen von Anfang an gründlich aufgeklärt werden und erfahren, dass es hier sehr wohl eine Perspektive für sie gibt".
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