Ottakringer Straße: Wo die vermeintlichen Impfskeptiker zu Hause sind
Für viele hat die Ottakringer Straße im 16. Wiener Bezirk ihre eigenen Regeln. Die auch als "Balkanstraße" bekannte Party-Meile der bosnisch/kroatisch/serbischen-Community in Wien war während der vier Lockdowns quasi leergefegt. Cafés und Bars mussten insgesamt für neun Monate schließen, weshalb die Wut der Stammgäste gegenüber den Corona-Maßnahmen der Regierung kochte.
Insidern zufolge waren illegal geöffnete Lokale im Lockdown ein offenes Geheimnis, was zu zahlreichen "Corona-Partys" führte. Einige Gastronomen sollen im Lockdown besser als sonst verdient haben, da sich ihre Stammgäste gekonnt hinter den abgeriegelten Türen und Fenstern vergnügt haben.
Nach der Eröffnung wollten sich allerdings viele Gäste nicht an die Corona-Regeln halten, was den Kellnern die Arbeit ziemlich erschwerte. Die unbeliebte Frage "Haben Sie etwas von den 3Gs?" wurde oft wütend beantwortet, einige Gäste änderten gar ihre Stammlokale und gesellten sich zu den anderen Corona-Skeptikern. Einige Lokale "verkauften" sich in der Zeit der geschlossenen Nachtgastronomie als Cafés, obwohl sie im Grunde klassische Diskotheken sind. Die Nachtgastronomie musste bekanntlich aufgrund der Personenbeschränkungen und früherer Sperrstunde 15 Monate geschlossen bleiben. Das haben einige Cafés ausgenutzt und Partys ohne Abstand, Masken und 3G-Regeln organisiert.
Impfskepsis und Corona-Mythen
Doch nicht nur auf der Party-Meile ist die Impfskepsis groß. Laut Informationen der Stadt Wien sind derzeit nur 49,3 Prozent der Einwohner Ottakrings vollständig geimpft, 54,8 Prozent haben ihre erste Dosis bekommen. Wer sich in den Lokalen umhört, kommt an den hitzigen Diskussionen rund um die Corona-Regeln und Impfung nicht vorbei. Als die "Lüge des Jahrhunderts" wird Corona oft an den Stammtischen bezeichnet, auch Verschwörungstheorien über Bill Gates, die Weltherrschaft oder aber die Unfruchtbarkeit bei geimpften Frauen prägen die Gespräche.
Oft hört man an der Bar Sätze wie "Ein Kumpel hat mir erzählt..." oder "Man munkelt, dass...". Viele denken, sie wüssten jetzt schon, wann der nächste Lockdown ansteht oder was sich alles in den Impfdosen befindet.
Laut einer Studie des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) stimmt fast die Hälfte der befragten Menschen mit ex-jugoslawischen Wurzeln diversen Mythen rund um die Pandemie zu. Hinzu käme mangelndes Vertrauen in die Politik, Medien und Wissenschaft. Zudem hätten viele aufgrund ihrer postkommunistischen Erziehung eine Grundskepsis.
Innerhalb der zweiten Zuwander-Generation spielt Social Media bei Menschen aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien eine große Rolle bei Informationen über die Corona-Pandemie. Klassische Massenmedien wie Tageszeitungen oder Fernsehen werden oft als Lügenpresse oder Regierungsmedien gesehen, weshalb diese kaum benutzt werden. Das zeigt ein Forschungsbericht des ÖIF unter dem Titel "Mediennutzung in der Corona-Pandemie".
"Wer über Corona redet, muss eine Runde bezahlen"
Die vollimmunisierten Gesprächspartner haben es entweder aus gesundheitlichen Gründen, dem "Testzwang" oder wegen des Drucks in der Arbeit gemacht. "Wenn ich mich nicht impfen lasse, gibt es Probleme mit dem Chef", sagt Rade bei einem Krügerl Bier in einem Irish Pub. Auf einem Schild hinter seinem Kopf ist zu lesen: "Wer über Corona redet, muss eine Runde bezahlen".
Obwohl auf dem großen Fernseher Spitzenfußball läuft, ist die Impfung das Top-Thema. "Hoffentlich sterben alle, die sich impfen lassen", sagt ein etwa 65-jähriger Gast. Der Kumpel schimpft mit ihm: "Hey, meine Mutter hat sich geimpft, erzähl' solche Sachen nicht!", worauf dieser besänftigt: "Na, dann sollen halt 99 Prozent sterben". Einer der Gäste holt sein Smartphone aus der Tasche und sagt: "Schaut mal her: Wenn man nach Bill Gates googelt, wird er als bestbezahlter Arzt der Welt betitelt!". Und alle stimmen zu, auch wenn sie es nicht gesehen haben. Dann kommen die üblichen Theorien über Angela Merkel, Joe Biden, die Chinesen, Juden, Freimaurer und Pharmakonzerne.
Direkt neben dem Irish Pub sitzen in einem der ältesten Lokale in dieser Straße viele Gäste, bei denen Corona Top-Thema ist. Marko K. hat seine Impfung hinter sich, sein guter Freund Goran I. will sich nicht impfen lassen, wartet lieber "neue Informationen" ab. Marko, der eigentlich Risikopatient ist, hat sich vor einiger Zeit impfen lassen - und zwar wegen lästiger Corona-Tests, die er für einen Gastro-Besuch brauchte. Auch wenn er skeptisch ist, kann er Menschen, die sich nicht geimpft haben, nicht verstehen: "So oder so müssen wir uns impfen, deshalb kann ich die Verweigerer überhaupt nicht verstehen". Goran will sich nicht impfen lassen und ist sehr skeptisch gegenüber allem in der Corona-Pandemie: "Vermutlich wird es sehr bald zu einer Impfpflicht kommen, weshalb ich im Winter große Proteste auf den Straßen erwarte".
"Weltweite Inventur"
Miro Čaljkušić ist Besitzer des Cafés "Aurora" und lebt seit 20 Jahren in Wien. So lange arbeitet er auch in diversen Rollen in der Ex-Yu-Gastronomie. Seit dem Rauchverbot haben seiner Meinung nach die Gäste keine Freiheiten mehr: "Der Luxus der ärmeren Menschen ist es, einen Kaffee oder Bier mit einer Zigarette im Café zu genießen. Seit dem Rauchverbot und den Corona-Regeln ist das nicht mehr möglich".
Viele seiner Gäste sind sehr skeptisch gegenüber der Impfung und auch wenn sie sich geimpft haben, fühlen sie sich nicht frei: "Es gibt keine Freiheit beim Gespräch und dem Kennenlernen mit den anderen". Der Cafébesitzer nennt die Corona-Pandemie als die "weltweite Inventur", in der u. a. auch die Gastronomie leidet: "Das ist nicht das Österreich, welches ich vor 20 Jahren kennengelernt habe".
Angst vor Unfruchtbarkeit
Lucija M. wartet an diesem bewölkten und schwülen Tag auf ihre Straßenbahn. Sie war zu Beginn der Pandemie gegen eine Impfung und hatte Angst. "Ich habe mich impfen lassen, damit ich Restaurants und Schwimmbäder sowie meine Familie in Kroatien besuchen kann", sagt sie. Ihre Familie und Freunde in Kroatien sind nicht geimpft: "Vor allem Frauen haben Angst wegen der Unfruchtbarkeit und wollen sich nicht impfen lassen". Als Anreiz für die Impfung bei der BKS-Community schlägt sie Geld vor, wünscht sich aber mehr Informationen von der Politik auch in ihrer Muttersprache.
Genau in der Mitte der Ottakringer Straße befindet sich eine Lounge Bar, wo die Psychologin Maja G. aus Serbien ihre Shisha genießt. Sie hofft auf die natürliche Heilung des Körpers im Kampf gegen das Virus: "Viele der Ärzte sind von der Politik bezahlt und die Impfung ist nicht genug getestet worden. Es wird zur Impfung gezwungen und somit wird unser Recht missbraucht".
Warum 'unsere' Menschen nicht geimpft sind? Da sieht man den Unterschied zu Österreichern, die ohne kritische Hinterfragung Regeln akzeptieren und unsere Menschen nicht.
In ihrem Stammlokal, welches bei kroatischstämmigen Jugendlichen sehr beliebt ist, spricht die Architektin Ena P. über die letzten Monate, die sie völlig erschöpft haben: "Die Impfung sehe ich als einzige Lösung raus aus dieser Situation". Die Meldung aus Deutschland, wonach die Corona-Tests demnächst kostenpflichtig sein werden, sieht sie kritisch: "Ich will nicht demnächst für einen Cafébesuch 75 Euro für einen PCR-Test bezahlen. Ein drei Tage gültiger Test soll mehr kosten als drei Tage Essen und Trinken?!" Ihre Community sei empört, vor allem, weil sie kein Vertrauen hätte: "Die Revolte ist zu groß und die Menschen sind nervös und misstrauisch."
Postkommunistische Erziehung als Faktor
Das kommunistische System im ehemaligen Jugoslawien und die Politik der Korruption nach dem Jugoslawien-Krieg werden auch oft als ein Grund für Impfverweigerung genannt. "Die Menschen wollen sich nicht impfen lassen, weil sie gelernt haben, nicht an jede Propaganda zu glauben", sagt uns die Übersetzerin Dušica P. und fordert das Ende der "schlimmen Zensur von wissenschaftlichen Arbeiten, die auch andere Möglichkeiten der Medizin vorschlagen".
Den postkommunistischen Faktor als wichtigsten Grund sieht auch die Vertrauensrätin der Grünen in Wien und Bloggerin Ajla Lubić: "Die meisten BKS-Menschen kommen aus einem System, welches durch Zwang und Repression gekennzeichnet war und der sozialistische Kommunismus kannte wenige individuelle Entscheidungs- und Entfaltungsräume". Das Thema der Impfverweigerer soll man nicht unbedingt ethnisieren", so Lubić. Die Menschen hätten Angst, unabhängig von ihrer Herkunft, und das sei kein reines Migrantenproblem. Sie schlägt vor, mehrsprachiges Infomaterial auszuteilen, Vereine und Organisationen aus der BKS-Community ins Boot zu holen und Impfberatungsstationen in Spitälern zu organisieren.
Nicht nur bei der BKS-Community in Österreich sind Verschwörungstheorien und Fake-News sehr angesagt. Eine Umfrage der Balkan Policy Advisory Group in Europe (BiEPAG) zeigt, wonach mehr als 77 Prozent der Befragten am Westbalkan im gewissem Maße oder stark an einer der COVID-19-Verschwörungstheorien glauben. Mehr als die Hälfte der befragten Personen in Bosnien-Herzegowina, Serbien und Montenegro beschuldigen Pharmakonzerne für die Ausbreitung des Virus. Im Kosovo glauben die meisten Befragten in die Einmischung von China bei der CoV-Ausbreitung.
"Eine große Herausforderung ist sicherlich die schiere Flut an Meldungen und dass es da schwierig ist, relevante Informationen herauszufiltern. Nicht alle haben viel Zeit, viele Medien zu konsumieren und sich im Detail zu informieren", sagt der Mediensprecher des Wiener Gesundheitsstadtrats Peter Hacker (SPÖ), Mario Dujaković.
Seine Tweets werden viel in der BKS-Community geteilt, weil hier die Informationen von "einem von uns" kommen, sagt Dujaković, der in Banja Luka geboren wurde.
Politik muss besser informieren
Die meisten Menschen mit Migrationshintergrund fühlen sich schlechter informiert als der Rest, so die Ergebnisse des ÖIF-Berichts. Viele wünschen sich von den offiziellen Stellen im Land mehr Informationen, da Gesetze, Bestimmungen und die Corona-Terminologie oft von Personen, die nicht lange in Österreich leben, nicht verstanden werden.
Laut letzten Umfragen wollen sich ca. 75 Prozent der Wiener sicher oder eher schon impfen lassen und diese Zahl will die Stadt mit Impfangeboten in unterschiedlichen Lebensrealität schaffen, u. a. auch in Einkaufszentren wie der Lugner City. Derzeit sind in Wien 53,5 Prozent der Bürger vollimmunisiert, fünf Prozent mehr haben eine Teilimpfung erhalten.
Der Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) versuchte es vor zwei Wochen mit einem Video-Impfaufruf in mehreren Sprachen, auch auf BKS. Die Stadt Wien wandte sich an die BKS sprechenden Bürger mit Impfaufrufen von Rapid-Sportdirektor Zoran Barišić und der Musikerin Edita Malovčić.
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