Melisa Erkurt: "Gen Z weiß besser, wie man Arbeit von Privatem trennt"
Die gebürtige Bosnierin (32) ist Journalistin, Bestseller-Autorin und leitet seit zwei Jahren die Chefredaktion – ein ungewöhnliches Online-Medium, das die junge Generation anspricht.
KURIER: Sie haben in Ihrem Buch "Generation haram" über Schieflagen bei Bildungs- und Karrierechancen bei jungen Migranten geschrieben. Für wie divers halten Sie eigentlich österreichische Redaktionen?
Melisa Erkurt: Für gar nicht. Viele Chefredakteure glauben, ihre Häuser sind viel diverser als sie es tatsächlich sind. Wenn man aber seine Redakteure mit einem Migrationshintergrund aufzählt, erst dann merkt man, dass es viel zu wenige sind.
Wer Journalismus für junge Menschen machen will, kann nur wenig vorausplanen"
Würde sich die Berichterstattung ändern, wenn mehr Menschen mit einer Migrationsbiografie in den Redaktionen säßen?
Das geht erst, wenn die Führungsebenen diverser sind. Einzelne Redakteure können sich in großen Redaktionen nur schwer durchsetzen.
Die von Ihnen gegründete Chefredaktion gibt es seit zwei Jahren. Sie machen Journalismus auf Plattformen wie TikTok, die ausschließlich von Leuten der Gen Z (Menschen unter 30, Anm.) erstellt werden. Welche Erfahrungen haben Sie gesammelt?
Wir haben schnell eine große Community aufgebaut. Unsere Journalistinnen und Journalisten wurden auch von anderen Medien abgeworben. Unser erster Redakteur, Idan Hanin, arbeitet jetzt für die "Zeit im Bild". Kassandra Steiner macht TikToks für "Wien heute". Uns kann man auch auf Steady (Plattform für Onlinepatronanzen, Anm.) abonnieren, wo wir wöchentlich per Mail über die Lebenswelt der Generation Z berichten - für jene, die kein Social Media haben.
Welche Formate sprechen die junge Zielgruppe an? Viele etablierte Medien scheitern an der Aufgabe.
Das Storytelling ist ein ganz anderes, es stehen andere Dinge im Vordergrund. Man muss sich für die sozialen Medien ein eigenes Konzept überlegen und nicht einfach Beiträge vom Printprodukt auf Social Media übernehmen.
Sie repräsentieren mit der "Chefredaktion" sozusagen die Avantgarde des Medienwandels. Wie ist ihr Blick auf Zeitungen und Printmedien?
Die meisten unserer Steady-Abonnenten sind über 30 und fragen nach, ob sie auch ein Printprodukt zugeschickt bekommen können. Die wollen schon irgendwas in der Hand halten. Ich glaube nicht an den Untergang der Printmedien. Aber wer die junge Zielgruppe erreichen will, muss sich auf die sozialen Medien verlassen.
Wie ist es, ausschließlich mit Redakteuren aus der Gen Z zu arbeiten?
Ich dachte, es wird ein riesiger Unterschied. Aber nur weil jemand Gen Z ist, heißt es nicht, dass er oder sie automatisch Gen Z erreicht. Sie wissen auch besser, wie man Arbeit von Privatem trennt. Eine wichtige Lektion, die ich von ihnen gelernt habe.
Gibt es ein Mindestalter für Journalismus?
Wir haben eine Summer School gegründet, in der wir Schüler ab 13 beigebracht haben, was Journalismus ist. Am Ende der Woche hat jeder einen Beitrag gemacht, von denen einige veröffentlicht wurden. Das kann man mit viel Sorgfalt machen. Aber eine 13-Jährige als Redakteurin zu einer Demo schicken, geht nicht. Da muss man schon aufpassen.
Auf den Plattformen, auf denen Sie arbeiten, entlädt sich regelmäßig Hass auf diverse Gruppen. Als Journalistin haben Sie das selbst sicher erlebt. Welche Erfahrungen haben Sie mit Anfeindungen gemacht?
Community-Management wurde ganz lange externen Leuten überlassen. Wir Journalisten selber haben das nie gelernt. Ein Beispiel: Bei einem Post wurden wir von einer Nachrichtenflut überschwemmt. Da sind wir gar nicht mehr nachgekommen, weil wir so eine kleine Redaktion sind. Auch wenn das ein Extremfall war, ist uns wichtig, dass unsere Journalistinnen und Journalisten in dem Bereich geschult sind.
Welchen Tipp haben Sie für junge, angehende migrantische Journalistinnen und Journalisten?
Dass sie sich gut überlegen, in welche Richtung sie gehen möchten. Und danach entscheiden, ob du deinen Migrationshintergrund erwähnen möchtest und Themen wie Migration und Identität behandeln willst. Weil du tust deiner mentalen Gesundheit echt etwas an, wenn du dich mit diesen Themen beschäftigst. Lass dir auch diese Rollen nicht überstülpen. Ich würde auch empfehlen, eine Fachrichtung zu studieren. Bei Migranten gilt ohnehin dieser klassische Spruch, dass man sich zwei, dreimal mehr beweisen muss, um dasselbe zu erreichen. Im Journalismus ist das nicht anders.
Man sagt, dass wir verschiedene Persönlichkeiten haben, je nachdem welche Sprache wir sprechen. Wie unterscheidet sich die deutsch-sprechende Melisa von der bosnisch-sprechenden Melisa?
Darüber habe ich eine Kolumne geschrieben, weil mich das so beschäftigt. Viele Leute lesen meine Texte und glauben, dass ich gemein oder pessimistisch bin. Wenn sie mich dann reden hören, sind sie überrascht, dass ich eh nett bin. Weil Bosnisch eine sehr harte Sprache ist und ich zwar auf Deutsch, aber noch immer in der bosnischen Tonalität spreche, kommt es manchmal hart rüber.
Das Leben in Wien kann sehr schnelllebig sein und auch das Aufwachsen oder Leben "zwischen zwei Kulturen" ist oftmals sehr fordernd. Wie sehr bist du noch der bosnischen Kultur verbunden?
Ich habe nie diese bosnische oder Ex-Jugoslawische-Community gesucht, auch weil mich der vorherrschende Nationalismus immer abgeschreckt hat. Fast alle Personen in meinem Umfeld haben eine Migrationsgeschichte, aber das Bosnische driftet immer schon ein bisschen weg von mir.
In einer Kolumne haben Sie geschrieben, dass Sie vor allem seit der russischen Invasion in der Ukraine durch Erzählungen der Eltern Ihre Familiengeschichte erfahren. Wird in Migrantenfamilien zu wenig über die schmerzhafte Vergangenheit gesprochen?
Ich habe das Gefühl, dass ich erst jetzt zu verstehen beginne, wie wichtig das gerade für uns ist. Viele Migranten kennen ihren Stammbaum nicht - weil ihre Familien womöglich überall verstreut sind. Andenken haben sie vielleicht auch keine. Bei uns etwa wurde das alles im Krieg zurückgelassen. Ein Fotoalbum oder zwei Fotoalben konnte meine Mutter mitnehmen. Darüber bin ich auch dankbar. Aber ich glaube, dass viele Menschen nicht einmal das haben. Deswegen ist es so wichtig, mit der Familie über ihre Erfahrungen zu sprechen.
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