Brust oder Bauch. Unsere Atmung spiegelt Körper und Seele
Das Neugeborene holt tief Luft und beginnt zu weinen. Auf den Moment warten alle Eltern, denn mit dem ersten Schrei entfalten sich die Lungen des Kindes. Der Kreislauf des neuen Erdenbürgers hat sich auf das Leben außerhalb des Mutterleibs umgestellt. Ab sofort atmet das Baby allein – ein, aus, ein, aus … Es ist die natürlichste Sache der Welt.
Bewusst steuerbar.
Die Atmung dient dem Gasaustausch zwischen dem Menschen und der Außenwelt. Bei jedem Einatmen strömt Luft durch Mund oder Nase in den Körper. Sauerstoff wird dabei aufgenommen, gelangt in die Lunge und wird über das Blut weitertransportiert.
In den Zellen wird er bei Stoffwechselvorgängen verbraucht, als Abfallprodukt entsteht Kohlendioxid. Dieses wird wiederum über das Blut in die Lunge transportiert und beim Ausatmen an die Umwelt abgegeben. Da der menschliche Körper für nahezu alle Stoffwechselvorgänge Sauerstoff benötigt, ist der Gasaustausch in der Lunge überlebenswichtig.
Befindet sich der Mensch im Ruhezustand, atmet er zwölf bis 16-mal pro Minute ein und wieder aus. Jedes Mal nimmt er dabei durchschnittlich einen halben Liter Luft auf. Die Frequenz erhöht sich deutlich bei körperlicher Aktivität.
Dann benötigt der Körper, genauer gesagt die Zellen, nämlich mehr Sauerstoff. Die Atmung läuft unbewusst und vollautomatisch ab. Sie ist aber auch die einzige Körperfunktion, die wir bewusst steuern können. So weit einmal die biologische Erklärung.
Brust statt Bauch.
Obwohl die Atmung unbewusst vonstatten geht, kann bei ihr viel schief laufen. „Unser Atem begleitet uns von der ersten Sekunde unseres Lebens bis zur letzten. Oft nehmen wir unseren Atem aber erst wahr, wenn uns im wahrsten Sinne des Wortes die Luft wegbleibt“, weiß der akademische Atempädagoge Johannes Zemanek aus Erfahrung. „Irgendetwas läuft falsch, aber häufig wissen wir nicht, woran es liegt.“
Als das häufigste Problem sehen Experten die sogenannte Brustatmung. Sie führt zu einem schnellen, flachen Atmen. Evolutionsgeschichtlich ist diese Art allerdings vorgesehen, um den Körper auf eine Flucht vorzubereiten. Durch die geringere Sauerstoffzufuhr kommt es zu einer höheren Muskelanspannung, zugleich wird der Körper weniger schmerzempfindlich. In manchen Situationen ist das durchaus gewollt; man denke nur an das Hecheln während einer Geburt.
Die Kehrseite der Medaille: Atmet man dauerhaft in die Brust, kann das zu Verspannungen führen. Auch bleiben in den Lungenbläschen Reste verbrauchter Luft zurück, was die Sauerstoffversorgung der Zellen beeinträchtigen kann – das wiederum bedeutet, dass auch die Organe und das Gehirn zu wenig Sauerstoff abbekommen. Leistungsabfall und Müdigkeit sind nur zwei der möglichen Auswirkungen.
Warum der moderne Mensch die Brust- der wesentlich effizienteren Bauchatmung dennoch vorzieht, hat mehrere Gründe. „Unter anderem liegt es sicher daran, dass fast alle der 20 bis 22 Muskeln, die an der Atembewegung beteiligt sind, auch für die aufrechte Haltung zuständig sind“, sagt Zemanek. „Diese fällt vielen Menschen, bedingt durch das viele Sitzen im Büro besonders schwer, aber auch Stress und Gefühle haben Auswirkungen auf die Spannungszustände unserer Muskulatur. Das kann einen freien Atemfluss behindern.“
Auch das heutige Schönheitsideal verhindert oft die Bauchatmung: Viele Menschen ziehen den Bauch ununterbrochen ein, was ein tiefes Atmen verhindert.
Einigen Menschen ist es sofort klar, wenn ihr Atem nicht frei fließt. Es ist irgendwie alles etwas anstrengender, man wird schnell müde und es läuft nicht so wie man möchte. Andere sind wiederum so an ihre Art zu atmen gewöhnt und nehmen ihren Körper gar nicht wahr – außer wenn etwas schmerzt.
Kleine Selbsteinschätzung.
Und damit kehren wir kurz zur Biologie zurück. Tiefes Ein- und Ausatmen optimiert die Sauerstoffzufuhr und den Abtransport des Kohlendioxids. Die Luftaufnahme kann von einem halben Liter auf bis zu vier Liter gesteigert werden. Der Körper ist also besser versorgt, Stress und körperliche Blockaden können vermindert werden.
„Zudem spiegelt Atem Körper, Geist und Seele wieder und ist daher ein wunderbares Eingangstor zur eigenen Psyche“, so Zemanek. „Die Arbeit am Atem kann sehr hilfreich für eine gesunde und stabile Psyche sein.“
Ein Test verrät, wie man atmet. Man setzt sich aufrecht hin und legt die Hand auf den Bauch. Wichtig ist, das Atmen nun nicht zu verändern, sondern so einzuatmen, wie man es immer tut. Hebt sich die Bauchdecke dabei deutlich an, findet die Bauchatmung statt. Ist das nicht der Fall, so atmet man nur in die Brust.
Will man das verändern, so hilft nur eines: sich immer wieder daran erinnern. „In unserem Leben wird es immer Situationen geben, in denen wir den Atem anhalten und uns verspannen. Wesentlich ist, sich seines Atems bewusst zu werden“, sagt Zemanek. „Dann ist es am leichtesten, ihn im Wechselspiel von Bewegung und Ruhe zu erforschen, um so schlussendlich zu einem vitalen persönlichen Atem zu finden.“
Kommentare