Stille Nacht, einsame Nacht

Ein-Mann-Notschlafstelle: Einer von 184.000 manifest armen Menschen in Wien
Versteckte Armut zu Weihnachten – unter den Wiener Donaubrücken.
Von Uwe Mauch

Es ist eine jener Dezembernächte, in der vor Mitternacht der Regen in Schneerieseln übergeht. Daher hat er sein dünnwandiges Mini-Zelt unter einer Wiener Donaubrücke aufgeschlagen. Diese soll gegen die Nässe und den Westwind Schutz bieten.

Erst ist seine rechte Hand zu sehen, die den Zippverschluss öffnet, dann der Kopf, dann die bloßen Füße. Und dann springt der kleine Schufti bellend ins Freie.

Der einsame Mann schläft auch heute Nacht unter der Brücke. Sein Dialekt verrät, dass er aus Kärnten stammt. Seine Lebensgeschichte lässt eine lange Kette von Enttäuschungen erahnen. In seinem Schlafsack sei ihm nicht kalt, beteuert er. Um sich vor dem Bodenfrost zu schützen, hat er unter dem Zelt einen Karton aufgelegt.

Seit zwei Jahren lenkt die erfahrene Sozialarbeiterin Susanne Peter den Kältebus der Caritas durch frostige Wiener Nächte. Heute bietet sie dem Zeltbewohner eine Isomatte an, die besser gegen den kühlen Untergrund schützen soll als seine notdürftig aufgelegten Kartons. Die er auch sofort annimmt.

Was er sich sonst noch wünscht, wird der obdachlose Mann gefragt: "Dass ich das Geld noch zusammenbekomme, damit ich zu Weihnachten mit dem Schufti im Hotel schlafen kann."

Die Armutsmigrantin

Die Donaubrücken sind Fixpunkte auf der nächtlichen Kältebus-Tour. Während sich die 184.000 manifest Armen in einer der reichsten Städte der Welt tagsüber gut verstecken, begegnet uns das Elend nach Einbruch der Dunkelheit auf Schritt und Tritt.

Stille Nacht, einsame Nacht
Das Caritas-Team rückt mit dem Kältebus aus, um Obdachlosen eine Schlafstelle oder einen winterfesten Rucksack anzubieten. Wien, 22.12.2014

Der Kegel ihrer Taschenlampe leuchtet nun auf das Dickicht am Ende der Donauinsel. Niedergetretenes Gras weist den Weg zu den "Bushpeople", die in einem Zelt inmitten des baumhohen Gebüschs hausen. "Hallo, wir sind von der Caritas." Eine gepflegte ältere Frau öffnet ihr provisorisches Zuhause. Sie hat in Krakau in einem Spital als Buchhalterin gearbeitet, ihr Mann war beim Militär, erzählt sie in gutem Deutsch. Doch ihre Pensionen haben nicht zum Leben gereicht. Zyniker nennen Menschen wie sie Sozialtouristen, Sozialforscher entgegnen, dass sie eine Armutsmigrantin innerhalb der Europäischen Union ist.

Ständige Bewohner der Donauinsel begrüßt Susanne Peter wie gute Bekannte. Plötzlich steht Jacques mit seinem Fahrrad vor dem Kältebus. Seit vier Jahren lebt er unter freiem Himmel. Er hat Astrologie studiert und lobt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Doch er hat Angst, wieder in eine Wohnung zu ziehen. Die er sich derzeit auch nicht leisten könnte.

Alleine weinen

Stille Nacht, einsame Nacht
Kältebus Caritas Donauinsel Wien

Dennoch gibt Susanne Peter nicht auf. Beziehungsarbeit heißt ihr Zauberwort. Und wenn sie einem wie Jacques 15-mal angeboten hat, wieder ein Dach über dem Kopf anzustreben, wird sie es auch noch ein 16. Mal probieren. Oft genug wurde ihre Hartnäckigkeit belohnt.

Auch beim Helmut gibt sie nicht auf. Der Mann, der den nächtlichen Besuch freundlich begrüßt, sucht seit 15 Jahren Schutz unter einer Autobahnbrücke. "Ich komm’ von hier einfach nicht mehr weg", sagt er. Dann zeigt er auf ein Gebüsch: "Hier habe ich ein Kind verloren, und dort habe ich ein Kind gezeugt." Das ältere Kind hat die Frühgeburt nicht überlebt, das jüngere Kind ist jetzt erwachsen und ruft jeden Tag an und fragt, ob es dem Papa gut geht. Helmut macht erst einen gefassten Eindruck, um dann zuzugeben: "Ich weine, wenn ich alleine bin."

Stille Nacht, einsame Nacht
Das Caritas-Team rückt mit dem Kältebus aus, um Obdachlosen eine Schlafstelle oder einen winterfesten Rucksack anzubieten. Wien, 22.12.2014

Anrufe beim Kältetelefon lotsen die Streetworker weiter durch die Stadt. Auch in den Wienerwald und in Parkanlagen. Oft treffen sie Menschen an, die erschöpft auf dem Gehsteig einschlafen, manchmal fahren sie leere Kilometer. Dass sie in dieser frostigen Nacht einen Betrunken auflesen, der selbst nicht mehr auf die Beine kommt, und ihm damit das Leben retten, ist eine andere, eine Weihnachtsgeschichte.

Das Kältetelefon

Wer im Winter einen obdachlosen Menschen in Wien schlafen sieht und unkompliziert helfen möchte, kann beim Caritas-Kältetelefon anrufen: 01 / 480 45 53 (das Telefon ist bis Ende April täglich rund um die Uhr besetzt). Mail: kaeltetelefon@caritas-wien.at.

In akut lebensbedrohlichen Situationen sollte man jedoch unbedingt die Rettung unter 144 verständigen.

Stille Nacht, einsame Nacht

Wärme schenken

1 Schlafsack + 1 warmes Essen = 1 Gruft-Winterpaket für 50 €. Nähere Informationen: www.gruft.at

Aktion „Wärmequell

“Ebenfalls hilfreich: Mit der Aktion „Wärmequell“ unterstützt die Wiener Stadtdiakonie aus Spendengeld Menschen im Winter, die ihre Heizkosten nicht zahlen können. Infos: www.diakoniewien.at.

Warmes Essen und dazu ein Lächeln gibt es zu Weihnachten im Häferl in der evangelischen Kirche in 1060 Wien, Hornbostelgasse 6.

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