Was gute Schulsysteme auszeichnet

Was gute Schulsysteme auszeichnet
Das sind die Faktoren, die die Lernleistungen der Schüler verbessern.

Was unterscheide gute Schulen von schlechten? Dieser Frage wollte der Neuseeländer John Hattie auf den Grund gehen. Er führte deshalb die Ergebnisse von mehr als 700 Metaanalysen zusammen. Sein erstaunliches Resümee: Elternhaus, Feriendauer und kleinere Schulklassenen haben wenig Einfluss auf den Lernerfolg der Schüler. Feedback der Schüler an den Lehrer, klare Lernziele und die Selbsteinschätzung der Schüler hingegen schon. Auch der Kindergarten wirkt sich positiv aus. Vernichtend dagegen das Urteil über Konzepte, wie sie in der Neuen Mittelschule verwirklicht werden: Die zusätzlichen finanziellen Mittel haben überhaupt keinen Effekt auf die Lernleistung.

Hattie ist einer der bedeutensten Bildungsforscher unserer Zeit. Seine Megastudie ist jetzt auf Deutsch unter dem Titel "Lernen sichtbar machen" erschienen. Auch wenn nicht alle Ergebnisse Hatties auf den deutschsprachigen Raum eins zu eins umsetzbar sind, haben doch viele Ergebnisse auch in nicht-englischsprachigen Ländern Gültigkeit. Im Folgenden wichtige Ergebnisse von A bis Z:

Elternhaus: Eltern haben eher geringen Einfluss auf den Lernerfolg ihrer Kinder. Relevant sind einzelne Faktoren wie der sozioökonomische Status der Eltern, der vor allem in der Vorschule und den ersten Schuljahren Auswirkungen hat. Entscheidend ist dabei laut Hattie, ob die Eltern die in der Schule verwendete "Sprache" und kulturellen Normen beherrschen und wissen, wie sie ihre Kinder beim Lernen unterstützen können. Noch etwas stärkeren Einfluss hat die intellektuelle Stimulation der Kinder im Elternhaus. Ermutigungen und Erwartungen, die Eltern den Kindern mitgeben, haben einen stärkeren Einfluss als Interesse an den Lernfortschritten des Kindes oder dessen Beaufsichtigung.

Feedback: Einer der mächtigsten Einflüsse auf Schülerleistung. Dabei sind Rückmeldungen der Schüler an die Lehrer das eigentlich wichtige und der drittstärkste aller von Hattie erhobenen Effekte: Lehrer müssen erkennen, wo jeder einzelne Schüler steht, Fehler macht, falsche Vorstellungen hat oder sich zu wenig einsetzt - und dann bei ihrem Unterricht darauf Rücksicht nehmen. Lehrer sollen wiederum bei Feedback an die Schüler darauf achten, dass dieses sich auf die konkrete Aufgabe bezieht (was ist richtig/falsch, was kann verbessert werden und wie, welche Strategien helfen weiter). Dann kann Lehrer-Feedback an Schüler äußerst wirksam das Lernen verbessern.

Feriendauer: Die (lange) Dauer der Sommerferien ist zwar regelmäßig umstrittenes Thema in der Bildungspolitik, hat aber nur sehr geringe negative Auswirkungen auf die Leistung. Durch Lehrer, die sich am Können der Schüler orientieren, können diese Rückstände schnell aufgeholt werden.

Hochbegabte: Ein Faktor mit sehr stark positiver Wirkung ist "beschleunigter Unterricht" für Hochbegabte, bei dem diese den Lehrplan schneller abarbeiten bzw. Klassen überspringen können.

Kindergarten: Der Besuch von Kindergarten und Vorschule hat unabhängig von der Dauer einen deutlich positiven Effekt auf die Schülerleistung, wenn auch nur in der Volksschule. Der Besuch von Ganztageskindergärten wirkt sich dabei signifikant stärker aus als der halbtägiger Einrichtungen. Bei Vorschulen ist der Effekt bei einer Dauer von mehr als einem Jahr stärker und insbesondere bei Kindern aus Minderheiten größer. In Kindergarten und Vorschule könnten außerdem so wichtige Einflussfaktoren wie Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen oder die Bereitschaft, sich für das Lernen anzustrengen, gefördert werden.

Klassengröße: Nur geringen positiven Einfluss hat die Verringerung der Klassengröße, in die in Österreich seit Jahren investiert wird. Diese scheine sich eher auf die Arbeitsbedingungen auszuwirken, was sich dann "auf das Lernen auswirken kann oder auch nicht". Grund dafür scheint laut Hattie, dass Lehrer auch bei kleineren Klassen so unterrichten wie davor und "damit die Chancen, die sich ihnen durch die geringere Zahl von Lernenden bieten, ungenutzt lassen".

Lehrer: Das aktuelle Mantra, dass die Leistung der Schüler vom Lehrer abhänge, ist aus Hatties Sicht missverständlich. Tatsächlich hat die Art, wie Lehrer unterrichten, die stärksten Auswirkungen auf den Lernzuwachs. Man solle daher weniger über die persönlichen und beruflichen Merkmale diskutieren, sondern "die Qualität der Effekte von Lehrpersonen auf das Lernen". Lehrer sollen wie Regisseure das Lernen ihrer Schüler steuern: Sie müssen wissen, wo ihre Schüler gerade stehen, was das Lernziel ist und wie sie es erreichen können. Wenn Schüler etwas nicht verstehen oder beherrschen, müssen Lehrer ihnen alternative Lernwege anbieten können. Sie bräuchten eine Liebe zu ihrem Fach, den Willen, es den Schülern näherzubringen und den Glauben, dass jeder Schüler lernfähig ist. Am effektvollsten ist ein Lehrer dann, wenn er selbst vom Feedback der Schüler lernt, wie er seinen Unterricht adaptieren muss und die Schüler dazu befähigt, selbst zu Lehrern zu werden.

Lehrerausbildung: Die erste Ausbildung hat nur wenig Einfluss darauf, wie stark Lehrer später die Lernleistung ihrer Schüler beeinflussen können. Als Grund wird vermutet, dass angehende Lehrer zu wenig neue Unterrichtskonzepte kennenlernen bzw. zu wenig Möglichkeiten haben, diese umzusetzen. Das Fachwissen bewirkt laut empirischer Daten überraschenderweise so gut wie nichts, viel wichtiger ist demnach eine stärker intellektuelle Orientierung der Lehrer, verbale Leistungsfähigkeit und deren Fähigkeit, Beziehungen zu den Schülern aufzubauen. Stärkere Effekte werden der Weiterbildung attestiert, vor allem, wenn sie Lehrer dazu bringt, ihre bisherige Art des Lehrens zu hinterfragen. Ob Lehrer für Weiterbildung freigestellt werden und ob diese verpflichtend ist, hat übrigens auf die Schülerleistung keinen Einfluss.

Lernziele: Anspruchsvolle, aber erreichbare Lernziele sind laut Hatties Ergebnissen entscheidender Ansporn dafür, ob Schüler ihre Leistung verbessern. Die Ziele müssen in Bezug zum derzeitigen Lernstand stehen, reine "Tu dein Bestes"-Ziele nutzen nichts. Für Lehrer bedeutet das, dass sie den individuellen Wissensstand ihrer Schüler kennen und ihren Lernweg so strukturieren müssen, dass diese das Ziel auch erreichen können.

Lehrpläne: Wichtiger als der Inhalt der Lehrpläne sind die Strategien, die Lehrer verwenden, um Lerninhalte zu vermitteln. Nach Hattie sollen Schüler so unterrichtet werden, dass sie neben anspruchsvollem Oberflächenwissen auch spezifische Fähigkeiten und ein tieferes Verständnis für das jeweilige Fach sowie Lernstrategien entwickeln.

Schulstruktur: Strukturellen Fragen wird der geringste Einfluss auf die Schülerleistung attestiert. Bei zwei Schülern mit denselben Fähigkeiten komme es nicht darauf an, welche Schule sie besuchen, sondern welcher Lehrer sie unterrichtet. Leistungsdifferenzierte Klassenbildung hingegen hat "einen Effekt von nahezu Null". Kein gutes Zeugnis stellt Hattie einigen in der Neuen Mittelschule (NMS) favorisierten pädagogischen Konzepten aus: So hat die interne Differenzierung keine nennenswerten positiven Auswirkungen - Ausnahme sind Klassen mit mehr als 35 Schülern, wie sie in Österreich aber ohnehin kaum vorkommen. Und auch die Individualisierung, bei der der Lernstand jedes einzelnen Schülers berücksichtigt werden soll, ist kaum effektiver als ein traditioneller Lehransatz. Mit Team-Teaching wird einem Konzept, für das es an den NMS extra Budgetmittel gibt, bescheidener Erfolg beschieden. Allerdings: Werde dieses Modell kombiniert mit anspruchsvollen Lernzielen sowie mehr Feedback der Schüler an die Lehrer bzw. der Lehrer untereinander, "dann sind die Effekte vermutlich sehr viel größer". Ein weiteres reformpädagogisches Modell, der gemeinsame Unterricht von Schülern verschiedenen Alters in einer Klasse, hat ebenfalls einen Effekt "im Bereich nahe null", da "die tief verwurzelte Grammatik des Unterrichtens" trotz solch struktureller Änderungen gleich bleibe.

Schüler: Die stärksten Einflüsse bringen die Schüler selbst mit. Auf Rang eins der insgesamt 138 Faktoren landet die Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus. Liegt sie unter dem, was die Schüler eigentlich könnten, bremsen sie dadurch ihre eigenen Möglichkeiten. Lehrer müssen deshalb stets anspruchsvollere Ziele setzen und Schülern das Selbstvertrauen vermitteln, sich selbst solche Ziele zu setzen. Auf Rang zwei der gewichtigsten Einflussfaktoren landet die kognitive Entwicklung von Schülern: Weiß der Lehrer, in welchem Entwicklungsstadium des Denkens die Schüler sind, kann er Stoff und Aufgaben entsprechend wählen. Eine der höchsten Effektstärken hat auch das Leistungsniveau, von dem ein Schüler startet. Das Geschlecht hat unterdessen allen Debatten über die Notwendigkeit von mädchen- oder bubensensiblem Unterricht zum Trotz vernachlässigbar geringe Auswirkungen auf die Leistung.

Sitzenbleiben: Das Wiederholen einer Klasse und auch die Androhung von Sitzenbleiben führt nicht zu einer allgemeinen Verbesserung der Lernleistung oder mehr Reife, wirtschaftlich gesehen handle es sich um Geldverschwendung. Außerdem ist die Gefahr eines Schulabbruchs bei Sitzenbleibern doppelt so hoch.

Unterrichtsgestaltung: Wichtiger ist, was die Schüler zu tun bekommen, als was der Lehrer selbst macht. Ebenfalls sehr einflussreich ist die Beziehung des Lehrers zu den Schülern. Mittlere Effekte haben die Erwartungen des Lehrers an die Leistungen der Schüler. "Diejenigen Lehrpersonen, die bestimmte Unterrichtsmethoden verwenden, die hohe Erwartungen an alle Lernenden stellen und die positive Lehrer-Schüler-Beziehungen aufbauen, haben mit hoher Wahrscheinlichkeit überdurchschnittliche Effekte auf die Schülerleistungen." Erfolgreicher Unterricht setzt voraus, dass die Schüler genau wissen, was ihr Lernziel ist, Strategien zur Verfügung gestellt bekommen, um es zu erreichen, ihr Lernen planen. Der Lehrer muss sich außerdem fortwährend von den Schülern Feedback holen, ob sein Unterricht funktioniert. Lehrer müssen außerdem - auf Basis empirischer Belege aus dem Klassenzimmer - ihren Unterricht kritisch reflektieren und mit Kollegen diskutieren.

Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie hat 2009 mit "Visible Learning" die bisher größte erziehungswissenschaftliche Studie publiziert. Sein Ziel: Er wollte herausfinden, welche Faktoren dafür verantwortlich sind, ob Lernen gelingt. Das Werk wurde teilweise euphorisch aufgenommen, der "Hattie-Report" als "Gral" der Bildungsforschung gelobt, sein Autor als Bildungs-Messias. Dabei schränkt Hattie selbst die Aussagekraft klar ein: "Wir sollten die Ergebnisse dieser Meta-Analysen nicht für nicht-englischsprachige und nicht hoch entwickelte Länder verallgemeinern." Lesenswert ist Hatties Werk trotzdem: Er hat dafür die Ergebnisse von mehr als 700 Metaanalysen von 50.000 Studien mit insgesamt 250 Mio. Schülern zusammengefasst und viele Faktoren gelten länderübergreifend. Im Mai erscheint es unter dem Titel "Lernen sichtbar machen" auf Deutsch.

"Am wichtigsten ist, dass das Lehren für die Lernenden sichtbar ist und dass umgekehrt das Lernen für die Lehrperson sichtbar ist", fasst Hattie die Ergebnisse seiner Analyse zusammen. Das heiße aber nicht, dass sich damit alles um den Lehrer drehe, betonen die Übersetzer des Buchs, Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Auch Lehrer seien "nur Protagonisten im äußerst komplexen Bildungsgeschehen", alleine können sie auch nichts erreichen.

Art der Unterrichts

Unbestritten wichtig ist laut der Studie jedoch die Art, wie Lehrer unterrichten und das Lernen ihrer Schüler steuern: Sie sollen keine Zeit mit Unwichtigem vergeuden, immer vom individuellen Lernstand ihrer Schüler ausgehen, ihnen klar vorgeben, was das Ziel ist und ihnen zeigen, wie sie es erreichen können. Der Lehrer soll sich dabei laut Hattie permanent Rückmeldung darüber holen, ob sein Unterricht auch wirkt - etwa durch kurze Mini-Tests und indem er ihnen Rückmeldungen zu ihrem Fortschritt gibt.

Insgesamt hat Hattie für seine Studie in fünfzehnjähriger Arbeit 138 Faktoren ausgemacht, die Lernen fördern oder behindern können, und nach deren Effektstärke gereiht. Seine Auswahl - überproportional viele Metastudien aus Neuseeland und Australien, nur ein Drittel ist nach 2000 erschienen - war dabei ebenso in der Kritik wie die statistische Qualität der Arbeit und das weitgehende Aussparen qualitativer Forschung.

Die stärksten Effekte bringen nach Hatties Ergebnissen die Schüler selbst mit: Besonders relevant ist, welche Leistungen sie sich selbst zutrauen und ob sie entsprechend ihrem Entwicklungsstand unterrichtet werden. Sehr starke Faktoren sind außerdem Feedback, der Besuch von Kindergarten oder Vorschule, beschleunigter Unterricht von Hochbegabten, klare Lernziele sowie Strategien, um diese zu erreichen, und eine gute Beziehung des Lehrers zum Schüler.

Gesamtschule: ja oder nein?

Kaum Auswirkungen auf die Leistung haben indes heiß diskutierte Fragen vor allem der Struktur (Leistungsdifferenzierung, kleinere Klassen, Lehrerausbildung, Lehrpläne). Will die Bildungspolitik also die Ergebnisse von Unterricht verändern, dürfen sich ihre Eingriffe nicht auf Strukturfragen beschränken, betont Hattie. Denn es werde sich nichts ändern, wenn weiterhin "die wichtigste Form der Klassenzimmer-'Aktivität' im Fragen, Abrufen und Erwerben großer Mengen an Oberflächenwissen besteht, und solange bloß Beschäftigung und Geschäftigkeit angestrebt werden".

Ebenfalls geringen Effekt haben nach Hattie pädagogische Konzepte, wie sie in Österreich etwa in der Neuen Mittelschule (NMS) propagiert werden. Denn egal ob innere Differenzierung, Individualisierung oder Team-Teaching - keine dieser Maßnahmen bringt etwas, wenn der Lehrer in Wirklichkeit weiter unterrichte wie bisher.

Keine Vorlage

Eine Vorlage dafür, wie gute Schule insgesamt funktioniert, kann Hattie mit seiner Mammutstudie nicht liefern - und will er auch nicht. "Ein Ziel dieses Buchs ist es, eine Theorie bezüglich der Schlüsseleinflüsse auf das Lernverhalten der Lernenden zu entwickeln - es soll sicher nicht dazu dienen, lediglich ein weiteres 'Was-funktioniert'-Rezept zu schaffen."

Und auch die Bewertung einzelner Faktoren nach Effektstärke ist nur mit Vorsicht zu genießen: Korrelation sei nicht mit Ursache zu verwechseln, warnt Hattie, Faktoren mit nur geringer positiver Wirkung seien nicht von vorneherein keine Investitionen wert und es müsse stets das Geflecht von Wechselwirkungen rund um einzelne Faktoren mitberücksichtigt werden. Und nicht einmal jene Faktoren, denen negative Effekte zugeschrieben werden, sollen verteufelt werden, betonen Beywl und Zierer. Lange Sommerferien etwa führen zwar zu schlechteren Leistungen. Aber: "Bildung erschöpft sich nicht in einem wie auch immer messbaren Nutzen" und Kinder bräuchten eben auch Zeit für Familie, Freunde und "sogar" Langeweile.

Hatties Versuch, durch seine Mammutstudie ideologische Argumentation in der Bildungsdebatte zurückzudrängen, ist bisher - zumindest teilweise - nach hinten losgegangen. Gerade durch die Reihung der Effektstärken wurde "Visible Learning" vielfach nur als "Fast-Food-Hattie" (Beywl/Zierer) gelesen, um eigene Vorannahmen zu bestätigen. Als das erwünschte "Gegenmittel zu sich wellenartig ausufernden Bildungsdebatten" wird der "Hattie-Report" deshalb wohl auch auf Deutsch nur bedingt taugen.

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