Warum Wien die Hauptstadt des Sex ist

Der erste Orgasmus der Filmgeschichte, Pelz und Peitschen – Wien hat als Metropole der Lust Weltruf.

Das Schauspiel wiederholte sich Abend für Abend gegen Ende des Jahres 1922. Sondergarnituren der Straßenbahn fädelten sich vor dem Wiener Konzerthaus auf, um die freudig-erregten Besucher einer ganz besonderen Veranstaltung heimzubringen. Anita Berber, deren Beiname „Göttin der Nacht“ lautete und die als „schamloseste Frau der Weimarer Republik“ galt, trat auf. Es war kein klassisches Konzert, das da aufgeführt wurde.

Schamlos

Anita Berber tanzte – nackt und gemeinsam mit ihrem schwulen Partner Sebastian Droste. Schon die Titel ihrer Darbietungen machten dem Publikum Lust. „Cocain“ lauteten sie und „Selbstmord“, „Morphium“ oder „Die Nacht der Borgia“.

Die Künstlerin konnte sich über die Ovationen des Publikums nur kurz freuen. Allabendlich wurde sie mit ihrem Partner verhaftet, um am nächsten Tag – rechtzeitig zur Vorstellung – wieder freigelassen zu werden.
Wien, Weltstadt des Sex – die Historikerin und Politologin Michaela Lindinger suchte und fand mannigfaltige Beweise. Doch wie das Beispiel Anita Berbers zeigt: Der Grat zwischen Lust und Frust, zwischen Moral und Moralin, zwischen Aufrichtigkeit und Scheinheiligkeit ist schmal. Und ganz offensichtlich ist, dass Verbote und deren strenge Überwachung die Lust auf Lust fördern, statt sie einzudämmen.

Phallus am Stephansdom

Und statt das Volk auf den Pfad der Tugend zu führen, verloren sich viele auf Abwegen.
Sex ist überall, sogar dort, wo ihn keiner vermuten würde. Beispielsweise an Wiens wichtigstem Symbol der Frömmigkeit, am Stephansdom – gut sichtbar für jedermann. Links und rechts vom Riesentor, dem Haupteingang prangen auf zwei Säulen ein Penis und eine Vulva. Warum? Das weiß bis heute keiner. Fruchtbarkeitssymbole? Oder womöglich wollte man damit die heidnischen Götter in Stein bannen?

Warum Wien die Hauptstadt des Sex ist
Download von www.picturedesk.com am 18.10.2016 (09:05). Vulva Darstellung auf der Westempore rechts vom Riesentor am Stephansdom, Sexualsymbolik, Symbolik, Fruchtbarkeitssymbol, Wien, 1. Bezirk, Österreich, weiblich, symbolisch, fraulich, Symbol, Fruchtbarkeitskult - 20120410_PD6238
Warum Wien die Hauptstadt des Sex ist
Download von www.picturedesk.com am 17.10.2016 (14:46). Phallussymbol auf der Westempore am Stephansdom, Sexualsymbolik, Symbolik, Fruchtbarkeitssymbol, Wien, 1. Bezirk, Österreich, Männlichkeit, männlich, - 20131107_PD8200

Vulva und Phallus links und rechts vom Riesentor des Stephansdoms

Und weil der Sex „anständigen“ Frauen verboten war, blühte die Prostitution. Im Mittelalter schon, im Stubenviertel, das heute noch so heißt. In den Badestuben konnte es schon sein, dass im wohlriechenden Wasser eine Dame auf den Badegast wartete. Bei Ritterturnieren wartete auf den Sieger eine Liebesnacht und in den engen Gassen des mittelalterlichen Wien boten sich Prostituierte wie in Auslagen an, weswegen sie den Namen „Fensterschwalben“ bekamen. Was man nicht gerne ausspricht, dem gibt man eben verniedlichende Namen.

Der Kaiser bei den Prostituierten

Am Graben, also gleich ums Eck vom Stephansdom, war der „Schnepfenstrich“, doch meist wurde das unzüchtige Treiben in die Vorstadt verbannt. Auf den Spittelberg etwa. Der war Anziehungspunkt für Herren aus allen Gesellschaftsschichten, was sich heute noch an einer Inschrift auf dem Haus Gutenberggasse 13, das das Gasthaus zur Witwe Bolte beherbergt, ablesen lässt. „Durch dieses Thor im Bogen ist Kaiser Joseph geflogen“, liest man da. Gemeint ist Joseph II., der hier als Inkognito-Freier aus dem Lokal flog, weil er sich weigerte, den verlangten Preis zu zahlen und dessen Besuche beim „Veilchen-Lieserl“ noch im vorigen Jahrhundert Stoff für Fortsetzungsromane lieferten. Mit seinen Versuchen, die üppig wuchernde Prostitution in der Stadt einzudämmen, scheiterte er. Und den Vorschlag seiner Berater, sie auf Bordelle zu beschränken, die dem Staat auch noch Steuereinnahmen bescherten, seufzte der Kaiser: „Da brauche ich über ganz Wien nur ein großes Dach machen zu lassen, und das Bordell wäre fertig.“

Warum Wien die Hauptstadt des Sex ist
Karikatur auf die Prostitution in Wien >Der Schnepfen-Strich am Graben<. 1784. Kupferstich koloriert.

Schnepfenstrich am Graben: Verbote ließen die Prostitution florieren

Während die Freier aber meist ungeschoren davonkamen, wurden die Prostituierten bestraft und gedemütigt. Nicht nur, dass sie ins Gefängnis kamen, ihnen wurden auch noch die Haare abgeschnitten. Vor dem Gefängnis allerdings warteten bereits wieder die Perückenmacher auf die entlassenen Frauen – und weitere Freier. Besonders hoch ging es her, wenn Wien zum Treffpunkt von Herrschern und Diplomaten wurde, beim Wiener Kongress 1814/15 etwa oder während der Weltausstellung 1873.

Heimatstadt des Masochismus

Für Grausamkeiten aller Art war Wien jedenfalls ein gutes Pflaster. Der Schriftsteller Leopold Sacher-Masoch frönte seinen Obsessionen: Pelzen, Peitschen, Züchtigungen. Nach dem Tod Sacher-Masochs wurde der Masochismus erst so richtig populär: Es entstand quasi ein „Lesezirkel“, dessen Mitglieder beiderlei Geschlechts einander schriftlich formulierte Fantasien zuschickten.
Doch zumeist waren es schon Männerfantasien, die bedient wurden. Mit der frühreifen Kinderfrau und Prostituierten Josefine Mutzenbacher. Die Verfilmung des Romans, der „Bambi“-Autor Felix Salten zugeschrieben wird, verschaffte der Geschichte Popularität bis ins 20. Jahrhundert. Da störte auch die Tatsache wenige, dass sich die Handlung schlichtweg um Kinderprostitution dreht. Schließlich dauerte es auch nahezu ein Jahrhundert, ehe man Künstlern wie dem Schriftsteller Peter Altenberg oder dem Architekten Adolf Loos ihre Pädophilie übelzunehmen begann.

Warum Wien die Hauptstadt des Sex ist
Lisl Goldarbeiter (1909?1997). Österreichisches Photomodell. 1929 in Galvestone (USA) zur bisher einzigen österreichischen und damals ersten nicht-amerikanischen Miss Universe der Geschichte gewählt. 1929. Photographie von d'Ora Benda.

Liesl Goldarbeiter aus Wien, erste Miss Universe, die nicht Amerikanerin war

Die Sexhauptstadt Wien kann aber auch zwei Premieren für sich verbuchen, die über die Grenzen hinaus für Aufsehen sorgten. Da war Liesl Goldarbeiter, die schöne Tochter eines Galanteriewarenhändlers. Sie wurde 1929 zur Miss Universe gekürt – als erste Nicht-Amerikanerin. Und dann war da noch Hedwig Eva Maria Kiesler. Sie war in dem Streifen „Ekstase (1933) nicht nur komplett nackt auf der Leinwand zu sehen, sondern spielte auch noch den ersten Orgasmus der Filmgeschichte. Damit begründete Hedy Lamarr, wie sie sich später nannte, ihren Ruf als schönste Frau der Welt. Dabei konnte sie viel mehr: Sie erfand das sogenannte Frequenzsprungverfahren und damit die Basis für Handy, Bluetooth und WIFI-Technologie. Immerhin ruht sie heute in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof.

Warum Wien die Hauptstadt des Sex ist
Die österreichische Schauspielerin Hedy Lamarr (Hedy Kiesler) in der berühmten Nacktszene aus dem Film >Ekstase - Symphonie der Liebe. Regie: Gustav Machaty. Tschechoslowakei / Österreich. 1933. Photographie

Hedy Lamarr, schönste Frau der Welt und wohl auch eine der klügsten

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