Liebes Tagebuch... Warum wir uns so gerne anvertrauen

Tagebücher geben Zeugnis von Geschichte.
Die "Tagebuchtage" finden heuer von 1. bis 25. November statt. Private Aufzeichnungen haben lange Tradition.

Erinnern, aufbewahren, dokumentieren: Tagebücher sind Zeugnisse des Lebens. Schöne und traurige. Von 1. bis 25. November öffnen sich die persönlichen Aufzeichnungen der Öffentlichkeit. Die "Tagebuchtage" finden heuer zum 34. Mal statt.

Tagebuch schreiben klingt nach Pubertät, Pickel und Prüfungsangst. Es ist aber mehr, als sich einem Blatt Papier anzuvertrauen.

Tagebücher sind ein Ventil. Sie helfen Erinnerungen zu bewahren und den Alltag zu bewältigen. Als historische Quelle geben sie wiederum Einblick in vergangene Zeiten. Und erinnern daran, dass sich unscheinbare Tendenzen in der Gesellschaft zu etwas Gefährlichem entwickeln können.

Marinebeamter

Der Erste, der Tagebuch schrieb, wie wir es heute kennen, war kein babylonischer Herrscher oder römischer Kaiser, sondern ein britischer Marinebeamter: Samuel Pepys (1633–1703) notierte täglich, was er gegessen hatte, in welcher Theater-Loge er gesessen ist und mit wem er angebandelt hat. Mit seinem banalen Geschwätz lag er im Trend seiner Zeit. Die Betrachtung des eigenen Ichs kam mit der Renaissance auf, entwickelte sich in der Aufklärung weiter.

Samuel Pepys zeigt sich in seinen Aufzeichnungen nicht nur als Gourmet, Theaterliebhaber und Verführer. Er war auch Chronist seiner Zeit, dokumentierte 1666 den Großen Brand von London, über den es kaum Aufzeichnungen gibt. Der Diarist gibt Einblick in eine andere, längst vergangene Welt.

Tratsch

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ARCHIV - HANDOUT - Das undatierte Foto zeigt den österreichischen Schriftsteller und Arzt, Arthur Schnitzler. Wien feiert in diesem Jahr den 150. Geburtstag Arthur Schnitzlers. In seinen Dramen und Erzählungen hielt Schnitzler der Gesellschaft an der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert den Spiegel vor. Foto: dpa (zu dpa «Arthur Schnitzler: Bühnen-Dauerbrenner und subtiler Psychologe» vom 09.05.2012) +++(c) dpa - Bildfunk+++

Ähnlich wie Arthur Schnitzler mit seinen Tagebüchern. Fast 200 Jahre nach Pepys schrieb der Schriftsteller und Arzt den täglichen Tratsch aus der Wiener Gesellschaft des Fin de Siècle nieder. Ebenso seine Beobachtungen über den aufkeimenden Antisemitismus. Ein Zeitzeugnis, das wie Tagebücher vor und während der Kriegszeit, Erinnerung und Warnung sein kann.

Kulturgut

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Angelika Hager 23.08.2012, Bad Vöslau, Thermalbad, Schwimmender Salon Lesung Schnitzler

Für die Kolumnistin Angelika Hager sind Tagebücher ein wertvolles Kulturgut, "weil wir dadurch in eine Welt von früher eintauchen können". Ein Grund, warum Menschen ihre gelebte Geschichte für andere aufbewahren wollen. Zum Beispiel Elisabeth Marek. Die 76-jährige Wienerin fasste ihre Kindheit im Nachkriegs-Wien zusammen und will sie ihrem Enkel übergeben. Vom Waschtag der Mutter bis zur Unterzeichnung des Staatsvertrags, den sie als 15-Jährige vor dem Belvedere miterlebte: "Mutter und Vater mit Tränen in den Augen, eingekeilt zwischen all diesen Menschen, zeigten uns, dass wir zum Balkon schauen mussten. Der Staatsvertrag wurde gezeigt, frenetischer Jubel, tosender Applaus."

Selbsterkenntnis

In Tagebuch-Notizen finden sich oft reflektierte Ansichten. "Sie haben eine wichtige Funktion im Sinne der Selbsterkenntnis", sagt der Psychologe Alfred Lackner. Sie machen Erinnerungen greifbarer, plastischer, sagt Kolumnistin Angelika Hager. "Wenn ich mir denke: Okay, da bin ich an der falschen Wegkehrung abgebogen, aber das macht nichts. Diese Erfahrung macht mich weiser."

So finden sich in Franz Kafkas Tagebüchern, die er zwischen 1909 und 1923 verfasste, Selbstbetrachtungen, literarische Skizzen, Entwürfe von Briefen und Erzählungen.

Hager schrieb als Jugendliche wütende Tagebücher – "als ich in die große Rebellion gegen meine Eltern gegangen bin. Es war eine Art Autotherapie." Die Schmach vieler Teenager blieb auch ihr nicht erspart: Das Tagebuch gelangte in die Hände ihrer Mutter, die es hinter ihrem Rücken las. Heute schreibt die Journalistin Gedanken, Ereignisse oder kreative Eingebungen ins iPhone oder ihren Kalender – auch der erinnere an wichtige Erlebnisse.

Psychohygiene

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epa02301645 (FILE) A file picture dated 12 December 2007 shows an original photograph of Anne Frank displayed at Mullock's Auction house in Birtley, Britain, belonging to a small collection of items related to Anne Frank. The tree that Anne Frank could see from her hiding place during World War II is taken away in pieces in Amsterdam, The Netherlands, on 26 August 2010. Three days before, the tree blew over in strong winds. The trunk was broken about one and a half metres above the ground. EPA/ANITA MARIC ***UK AND IRELAND OUT***

Apropos wichtige Erlebnisse. Eines der bekanntesten Tagebücher ist jenes von Anne Frank. Es ist vor allem Zeugnis menschlicher Isolation. Das Schreiben gab dem jüdischen Mädchen in seinem Versteck in der Prinsengracht in Amsterdam Zuversicht und Trost: "Am besten gefällt mir noch, dass ich das, was ich denke und fühle, wenigstens aufschreiben kann, sonst würde ich komplett ersticken." Schreiben als Psychohygiene.

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Werner Schneyder Jeff Mangione / KnowMe

Die findet wohl auch Gnade vor dem "Tagebuch-Muffel" Werner Schneyder. Denn veröffentlichte Tagebücher als literarische Form, lese er gerne. Ansonsten steht er dem Phänomen kritisch gegenüber: "Unmittelbar nach irgendwelchen Ereignissen nimmt man die Ereignisse wichtig, glaubt, man muss sie notieren. Dann liest man das zwei, drei Jahre später durch und findet es nur banal. Davor will ich mich bewahren."

Zum 34. Mal finden von 1. bis 25. November die „Tagebuchtage“ statt. Zelebriert wird dies mit Veranstaltungen in ganz Österreich.

Geschichten aus der Nachkriegszeit erzählt die Wienerin Elisabeth Marek am 2. November um 19 Uhr im Café Eiles, Josefstädter Straße 2, 1080, der Eintritt ist frei.

Kabarettist Werner Schneyder liest aus seinem neuen Buch „Unter zwei Augen“, am Sonntag, 6. November um 10.30 Uhr im Schutzhaus Ottakring, Steinlegasse 15, 1160, 15 €.

Auch im Schutzhaus: Kolumnistin Angelika Hager. Sie liest aus „Amour-Hatscher“, eine Sammlung ihrer Kolumnen (Polly Adler), dazu spielt ihre Lieblingskombo. Am 11. November, 19.30 Uhr; 15 € Karten: joesreiseclub@a1.net

VinziRast-Obfrau Cecily Corti liest in der „Vinzi Rast Mittendrin“ aus: „Man muss auf dem Grund gewesen sein“.15. November, 18.30 Uhr. Währinger Straße 19, 1090; Eintritt frei

Schreibseminare

Schreibseminar wie etwa Tagebuchtechniken gibt es im „Writers Studio“, Infos unter: www.writersstudio.at

In Hollabrunn findet eine Schreibakademie für Jugendliche statt. Anmeldung unter: schoeffl.dichtermuehle@aon.at

Wettbewerb

Beim Tagebuch-Slam lesen Laien aus ihren Tagebüchern. Zuhörer entscheiden, wer gewinnt. Am 20. November um 20 Uhr im TAG-Theater, Gumpendorfer Straße 67, Eintritt: 10 € VVK.

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