Wenn es Nacht wird und Linda sich zu Bett legen möchte, geht sie zur Wohnungstür, sperrt zu und zieht den Schlüssel ab. Dann wirft sie ihn in eine Schüssel voll kaltem Wasser.
Linda versucht sich auf diese Weise selbst zu schützen. Sie weiß, sie würde sonst mit offenen Augen im Pyjama auf der Straße stehen und sich derweil im Tiefschlaf befinden.
Die 32-Jährige, die nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden will, gehört zu den ein bis vier Prozent der Menschen, die somnambul sind, also schlafwandeln. Unter Kindern sind bis zu 30 Prozent betroffen, meist klingt das Phänomen aber mit der Pubertät ab. Der Griff ins kalte Wasser soll Linda im Notfall aufwecken.
In Romanen und Filmen sind "Mondsüchtige", wie man früher sagte, ein beliebtes Motiv. Kein Wunder, haftet den Schlafenden, die sich nur scheinbar wach durch die Welt bewegen, doch etwas Schauriges an. Auch Forscher fasziniert der diffuse Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen seit Jahrzehnten. Und es kommen immer wieder neue Phänomene hinzu, jüngst etwa das sogenannte "Sleep-Texting", also das Verfassen von SMS-Nachrichten während des Schlafens.
Schlafend ein Auto steuern
Dass sie als Kind schlafwandelte, weiß Linda aus Erzählungen. Doch dass sie es auch als Erwachsene noch tut, wird ihr erst bewusst, als sie immer wieder blaue Flecken an ihren Oberschenkeln bemerkt, deren Herkunft ihr unerklärlich ist. "Irgendwann ist mir aufgefallen, dass die Flecken genau zur Ecke einer Kommode in meinem Schlafzimmer passen", erzählt sie. Allerdings kann sie sich nicht erinnern, jemals dagegen gelaufen zu sein.
Dieses Vergessen ist typisch für Schlafwandler. Betroffene stehen in der Nacht aus ihrem Bett auf, gehen umher und können sogar komplexere Tätigkeiten verrichten. Von Auto fahren, essen und sexuellen Handlungen wird berichtet. Eine kürzlich erschienene Studie der Villanova University zeigt, dass eine signifikante Gruppe junger Menschen während des Schlafens sogar zum Handy greift und Nachrichten verschickt. Diese Tätigkeit hat sich im wachen Zustand so automatisiert, dass sie auch unbewusst durchführbar ist.
Ein halb-waches Gehirn
Wer nächtens schon einmal einen Schlafwandler getroffen hat, weiß, dass die Darstellung von Betroffenen, mit den Arme im rechten Winkel vor dem Körper ausgestreckt, meist noch eine Zipfelmütze auf dem Kopf, nicht zutrifft. Somnambule haben die Augen geöffnet, ihr Gesicht ist starr und ausdruckslos. Sie sind oft wackelig unterwegs. Die Vorstellung, sie hätten die Arme ausgestreckt, entstand wohl dadurch, dass sie oft mit den Armen rudern, um die Balance zu finden.
In den meisten Fällen begeben sich Betroffene am Ende einer sogenannten "schlafwandlerischen Episode" von selbst wieder zurück in ihr Bett und schlafen weiter. Am nächsten Morgen können sie sich an keinerlei nächtliche Aktivitäten erinnern.
"Schlafwandeln zählt zu den sogenannten nicht-organischen Schlafstörungen. Vereinfacht gesagt sind dabei unterschiedliche Hirnregionen unterschiedlich wach", erklärt Bernd Saletu. Der Arzt ist der Pionier der Schlafmedizin in Österreich und hat 17 Bücher und mehr als 900 Publikationen zum Thema Schlaf veröffentlicht. "Es gibt verschiedene Schlafstadien, die der Körper während einer Nacht vier bis sechsmal durchläuft", sagt er. "Der Somnambulismus tritt während einer Tiefschlafphase auf, meist im ersten Drittel der Nacht." Zu Beginn einer Episode komme es zu einer Art Weckreaktion im Gehirn, die allerdings zu keinem vollständigen Erwachen führt.
Unterm Zug aufgewacht
Über die Jahre hat Saletu die ungewöhnlichsten Fälle gesehen: Kinder, die schlafend sechs Stockwerke an der Hausmauer heruntergeklettert sind, oder Erwachsene, die plötzlich am Bahnhof unter Zügen liegend erwachten.
Einer von Saletus ehemaligen Patienten ist Stefan. In seiner Familie kommt Schlafwandeln häufig vor. "Meine Oma, meine Mutter und meine Schwester schlafwandeln auch", sagt Stefan und fügt lachend hinzu: "Früher kam es schon hin und wieder vor, dass man sich nachts am Gang getroffen hat."
Als Stefan 20 Jahre alt ist, kommt es plötzlich zu regelmäßigeren Episoden. "Dann bin ich zum Beispiel auf einmal im Stiegenhaus aufgewacht und habe mich gefragt, was ich hier mache", sagt er.
Den Traum befolgen
Schlafforscher Saletu kann sich gut an Stefans Fall erinnern, obwohl dieser schon mehr als zehn Jahre zurückliegt. Als Stefan zur Untersuchung im Schlaflabor übernachtet, springt er mitten in der Nacht aus dem Bett und stürmt mitsamt der am Kopf angebrachten Elektroden aus dem Raum. "Ich habe geträumt, die Kabel wären Schlingpflanzen und ich muss mich davon befreien", sagt Stefan. Auch bei anderen Episoden hätten traumähnliche Vorstellungen ihn dazu gebracht, das Bett zu verlassen. "Einmal habe ich vor dem Schlafen einen Artikel über CIA-Aktivitäten im Irak gelesen und dann geträumt, dass die CIA in meinem Zimmer steht. Da bin ich dann aus der Wohnung geflüchtet“, erzählt er.
Ähnliches berichten viele Betroffene in Fallstudien. Sie hätten geträumt und das Geträumte dann tatsächlich ausgeführt, weil sie zum Bespiel das Gefühl hatten, es sei absolut notwendig, sofort einen Donut zu essen, um nicht zu sterben, heißt es.
"Dabei handelt es sich dann nicht um Somnambulismus im eigentlichen Sinne, sondern um eine REM-Schlaf-Verhaltensstörung", sagt Saletu. Sie findet im sogenannten REM-Stadium statt, das früher auch als Traumstadium bezeichnet wurde, nicht aber im Tiefschlaf. Bei den meisten Menschen ist die Muskulatur während dieser Schlafphase gelähmt, "sonst würden wir ja alle vor unseren Träumen weglaufen", erklärt der Experte. Bei Menschen wie Stefan trete diese Muskellähmung aber nicht ein, darum können sie sich beim Träumen bewegen.
Im Schlaf Schwiegermutter getötet
Ein ähnliches Phänomen dürfte in viel extremerer Form auch bei dem Kanadier Kenneth Parks eingetreten sein. Sein Fall ist so spektakulär, dass kaum ein Artikel über das Schlafwandeln mehr ohne ihn auskommt. Im Jahr 1987 soll Parks gegen 3.30 Uhr aufgestanden und 23 Kilometer zu seinen Schwiegereltern gefahren sein. Er erstach seine Schwiegermutter mit einem Küchenmesser. Danach tauchte er extrem verwirrt bei der Polizei auf und erzählte, er habe wahrscheinlich jemanden getötet. Im Schlaflabor soll später festgestellt worden sein, dass Parks den Mord schlafwandelnd begangen hatte und somit unzurechnungsfähig war. Er wurde freigesprochen.
So ungewöhnlich das klingen mag, "es ist nicht unmöglich", urteilt Saletu. Es sei schon denkbar, dass jemand schlafend eine solche Strecke fährt, allerdings könnten Somnambule Tätigkeiten nicht so gut ausführen, wie im wachen Zustand. "Sie sind wie Betrunkene", sagt Saletu.
Immer in Richtung Mond?
Entsprechend groß ist das Verletzungsrisiko. Bilder von Personen, die mit den Armen vor sich ausgestreckt sicheren Schrittes am Dachsims spazieren gehen, transportieren einen Mythos, denn eine "schlafwandlerische Sicherheit" gibt es nicht. Er habe schon mehrere Patienten behandelt, die von Kopf bis Fuß in Gips gehüllt zu ihm kamen, nachdem sie beim Schlafwandeln gestürzt waren, erzählt Saletu. Auch Darstellungen, wonach "Mondsüchtige" sich in Richtung Vollmond bewegen seien überholt. "Allerdings gibt es Studien, die zeigen, dass Schlafwandler vom Licht angezogen werden, so wie Mücken", sagt der Wissenschafter. "Vor der Erfindung des elektrischen Stroms war die hellste Lichtquelle in der Nacht eben der Mond."
Im 10. Stock
Dass sie sich beim Schlafwandeln verletzen können ist auch Linda und Stefan bewusst. "Einmal bin ich aufgewacht, als ich gerade dabei war, aus einer Flasche Shampoo zu trinken", erzählt Linda. "Danach ging es mir tagelang sehr schlecht". Stefan wiederum suchte Saletu auf, nachdem er mitten in der Nacht aus einem Erdgeschoss-Zimmer gehüpft war und sich beim Klettern über einen zwei Meter hohen Zaun die Hand aufgeschnitten hatte.
Zur Sicherheit haben Linda und Stefan ihre (Bett-)Partner darüber informiert, dass sie Schlafwandler sind. "Man kann bei dem Anblick sonst schon erschrecken", sagt Linda. Statt Schlafwandler zu wecken, sollte man sie ganz behutsam zu ihrem Bett zurückführen, rät Saletu den Mitbewohnern von somnambulen Menschen. Weckt man sie, können sie sehr verwirrt sein und Berührungen als Angriff wahrnehmen. "Dann werden sie unter Umständen aggressiv", sagt er.
Angst, sich oder seine Partnerin ernsthaft zu verletzen, hat Stefan nicht. Die Häufigkeit der Episoden hat auch dank der Behandlung im Schlaflabor stark abgenommen. Allerdings: "Wenn ich in einem Hotel im zehnten Stock eingebucht werde, und man die Fenster öffnen kann, dann frage ich zur Sicherheit schon, ob ich ein Zimmer in einem unteren Stockwerk haben kann", sagt er. Man wisse ja nie.
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