Nachbarschaftshilfe aus dem Netz

Nachbarschaftshilfe aus dem Netz
Soziologin Saskia Sassen erklärt, wie digitale Innovationen sozial benachteiligten Menschen helfen

Digitalisierung ist wie ein Messer – sie kann Gutes bewirken, aber auch Schlechtes. Die Vorteile sind derzeit aber nur jenen aus höheren Einkommensschichten vorbehalten, erklärt die US-Soziologin Saskia Sassen. „Es gibt aber genug Potenzial, um damit das Leben von Menschen mit niedrigem Einkommen und geringem sozialen Status zu verbessern“, sagte sie bei der „Marie Jahoda Summer School of Sociology“ an der Universität Wien. Sassen, die seit 30 Jahren zu Stadtentwicklung forscht, beobachtet, dass es in Großstädten kaum Nachbarschaftshilfe gibt. „Das Gefühl der Entfremdung nimmt immer mehr zu. Fragt man Menschen, wem die Stadt, in der sie wohnen, gehört, kommt immer häufiger die Antwort: Mir nicht.“ Und: „Viele fühlen sich isoliert, unwichtig und alleingelassen.“

Notfall-App

Nachbarschaftshilfe aus dem Netz
Uni Wien
In den USA nutzen fast alle Menschen, auch jene mit sehr niedrigem Einkommen, Smartphones, sagt Sassen. Sie ist überzeugt, dass mit digitalen Innovationen – etwa Handy-Anwendungen – der soziale Zusammenhalt aktiviert werden kann. Zum Beispiel mit der App „Emergency Nanny“: Wenn zum Beispiel alleinerziehende Mütter niemanden haben, der in Notfällen ihr erkranktes Kind von der Schule abholen kann, soll die App helfen. Mit einem Klick auf den Touchscreen aktivieren sie einen Hilferuf, der an alle App-Mitglieder der Nachbarschaft geht. Dasselbe gilt für ältere Menschen, die plötzlich im Haushalt Hilfe brauchen, oder ein gesundheitliches Problem haben. Die Nachbarschaft wird so zum sozialen Back-up-System: „Sie können darauf vertrauen, dass es jemanden in ihrer Nähe gibt, der ihnen hilft, der aus ihrem Milieu kommt, vor dem sie sich nicht schämen oder rechtfertigen müssen. Das kann die Frisörin sein, oder der Supermarkt-Verkäufer – sie werden zu Vertrauenspersonen. Dadurch bekommen sie das Gefühl, dass sie ihrer Umgebung nicht egal sind.“

Ähnlich funktioniert das Projekt „Open Source City“ in Boston: Statt Informationen von oben nach unten zu vermitteln – wie es Stadtverwaltungen an Bürger tun – , sollen hier alle aus der Nachbarschaft mit ihrem Wissen beitragen. Digitale Techniken werden auch im Gesundheitsbereich bedeutsamer. Ein Beispiel dafür ist „Panoply“, eine Anwendung am Handy, die freiwillige Helfer an psychisch kranke Menschen vermittelt, die etwa an Angstzuständen oder Depression leiden. Oder Telemedizin: In Ländern ohne ausreichende Krankenversorgung kann sie helfen, Ärmeren Zugang zu medizinischer Behandlung zu erleichtern. Die Soziologin sieht auch im Umgang mit Problemschülern Chancen in der Technik: „Viele Eltern können sich nicht genug um ihre Kinder kümmern und übersehen, dass diese nicht in der Schule erscheinen.“ Dort sind Lehrer überfordert, können Erziehungberechtigte nicht jedes Mal erreichen. Die Idee: Mit einer App kontaktieren sie sofort die Eltern der Schulschwänzer und erinnern sie an ihre Verantwortungspflicht. Saskia Sassen hofft, dass diese Art von sozialem Rückhalt den Menschen hilft, das Gefühl der Entfremdung zu mindern. Bei der Nachbarschaftshilfe kann jeder aktiv werden – von Jugendlichen, Obdachlosen bis hin zu Pensionisten, sagt die Soziologin. „Wenn ich in vielen kleinen Dingen mehr eingebunden bin, dann beginne ich auch, wieder mehr Verbindung zur Umgebung herzustellen. Man hat wieder mehr das Gefühl, dass es sich dabei um die eigene Stadt handelt.“

Zur Person: Saskia Sassen

Die Soziologin und Wirtschaftswissenschaftlerin, geboren 1949 in Den Haag, ist Professorin für Soziologie und Vorsitzende des „Committee on Global Thought“ an der Columbia Universität (New York, USA). Sie forscht über Staaten, Städte und Migration in der globalen Ökonomie. Ihr Fokus: Ungleichheiten, Geschlechterforschung und Digitalisierung. Sassen ist Mitglied im Club of Rome und erhielt 2013 den Prinz-von-Asturien-Preis für Sozialwissenschaften. Ihre Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

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