Tirol: Wie die Steinböcke vom Gran Paradiso ins Pitztal kamen

Wanderer in den Bergen im Tiroler Pitztal
In Pitztal in Tirol lebt die größte Population an Steinböcken in den Ostalpen. Wer die stolzen Hornträger beim Wandern in freier Wildbahn nicht findet, kann sie im 2020 eingeweihten Steinbockzentrum bewundern.

Von Plangeroß aus braucht man eineinhalb bis zwei Stunden zur gut 2.300 Meter hoch gelegenen Rüsselsheimer Hütte. Serpentine reiht sich an Serpentine. Das kann schon mal etwas langweilig werden. Wie gut, wenn ein kompetenter Wanderführer wie Markus Lietz mit von der Partie ist. An ihn kann man sämtliche Fragen richten, die man zum Thema Steinböcke immer schon hatte. Ganz nebenbei vergeht die Zeit wie im Flug, wenn man mit offenem Mund zuhört – sofern man noch genug Puste hat.

Der König der Alpen, weiß Markus, stand Anfang des 19. Jahrhunderts kurz vor der Ausrottung. Wilderer hatten es in Notzeiten nicht nur auf das Fleisch, sondern vor allem auf das Horn abgesehen, das als Aphrodisiakum galt. Lediglich rund um den Gran Paradiso hatten etwa sechzig Tiere überlebt, wo Italiens König Viktor Emanuel II. seine schützende Hand über sie hielt. Selbst an die Schweizer Nachbarn, die zur Wiederansiedlung einige Exemplare erbeten hatten, rückte er keinen einzigen Bock heraus.

Die Eidgenossen griffen daraufhin zu James-Bond-Methoden und schmuggelten einige Kitze ins Engadin. Eine zweite Population konnte gedeihen. Und aus dieser stammten die ersten sechs Exemplare, die 1953 – diesmal ganz offiziell – in Holzkisten ins Pitztal chauffiert wurden.

  • Anreise
    Der Railjet fährt mehrmals täglich  nach Imst-Pitztal. Weiter per Bus 310 nach St. Leonhard im Pitztal. oebb.at
  • Übernachten
    – Im zertifizierten Bio-Hotel Stillebach (3*) in St. Leonhard,
    – Auf der Rüsselsheimer Hütte
  • Wandern
    Eine weitere sehr empfehlenswerte und weniger alpine Wanderung im Pitztal führt zur Leiner Alm – allerdings ohne Option auf Steinbock-Sichtungen
  • Steinbockzentrum
    Das Zentrum wurde 2020 in St. Leonhard eröffnet. Bis Ende September tägl. v. 10–17 Uhr geöffnet. Das Museum erzählt u. a. die  Geschichte des Tales.
  • Auskunft
    pitztal.com

Doch Bock auf Sex

Leider hatte das Sextett in seinem Gehege keinen Bock. Zumindest nicht auf Sex. Und auch nicht auf Gefangenschaft, denn eines Morgens waren sie verschwunden. Jahre später stellten die Pitztaler jedoch erfreut fest, dass sich die Steinböcke in freier Wildbahn im Hochgebirge sehr wohl prächtig vermehrten. Heute umfasst die Population tausendzweihundert Tiere, es ist die größte der Ostalpen. Und nicht nur das: Vom Pitztal aus eroberte Capra ibex ganz Austria, landesweit sind es 22.000 Tiere, alpenweit sogar 47.000.

1.200! Allein hier im Pitztal und im benachbarten Kaunertal. Da wird sich doch einer finden lassen, oder? Den ersten entdecken wir auf der Speisekarte der Rüsselsheimer Hütte: als Carpaccio, als Gulasch. Echt jetzt? „Außer Lawinen und Krankheiten kann ihnen kaum etwas gefährlich werden“, erklärt Markus. „Adler greifen höchstens Jungtiere an.“ Und deshalb würden jede Saison zweihundert Hornträger zum Abschuss freigegeben, damit auch den Gämsen noch genug Futter und Lebensraum bleiben. Für einen kapitalen Bock sind bis zu 15.000 Euro fällig. Geld, das an die Pitztaler Landesjäger geht, die anno 1953 die ersten Exemplare ins Tal holten. Mit rund 20.000 Hektar ist es die größte Hochgebirgsjagd Österreichs. Tausendzweihundert Böcke auf 20.000 Hektar – das macht einen auf 166.600 Quadratmeter. Und das ist dann gar nicht so viel, wie wir beim weiteren Aufstieg zum Gahwinden-Joch merken. Die majestätischen Kletterkünstler lassen sich bitten. Immer flehentlicher klingt unser „Ja, wo isser denn?“

Steinbockzentrum in St. Leonhard

Markus scannt mit dem Fernglas die karge Felswüste. Endlich entdeckt er einen jungen Bock am Westgrat zur Hohen Geige. Doch für ein Safari-taugliches Foto ist er zu weit weg. Wir sehen dann noch ein Quartett, doch auch dieses lässt uns nicht in „Schussweite“ kommen. Beim Abstieg sind wir etwas enttäuscht. Und deshalb ganz froh darüber, dass es in St. Leonhard seit dem Sommer 2020 ein Steinbockzentrum samt Freigehege gibt, das dem König der Alpen ein Denkmal setzt.

Mathias Melmer braucht nur die Futterkrippen mit würzig duftendem Heu zu füllen – und schon kommen die Steinböcke zum Picknick von ihrem Hügel herab. Sehr elegant sieht das aus, wie sie sich selbst in steilstem Gelände sicher bewegen. Weil die Tiere aus dem Innsbrucker Alpenzoo stammen, sind sie kein bisschen scheu.

Steinbock im Steinbockzentrum in St. Leonhard

Außer Krankheiten und Lawinen kann dem Steinbock kaum etwas gefährlich werden. Wer beim Wandern kein Glück hat, betrachtet ihn im Freigehege

Man darf ins Gehege

Besucher, auch Kinder, dürfen deshalb sogar ins Gehege, sofern sie dem Steinwild nicht zu nahe kommen. Etwas pikiert scheinen nur die Murmeltiere zu sein, die es hier auch gibt, von denen aber kaum jemand Notiz nimmt, weil sie eben nicht mit so tollen Hörnern protzen.

Ernst Partl, Geschäftsführer des Naturparks Kaunergrat, hat in das 3,7 Millionen Euro teure Steinbockzentrum – ein Gemeinschaftsprojekt von Gemeinde, Tourismusverband und Naturpark – viel Herzblut investiert. Für die moderne Gestaltung zeichnet Rainer Köberl verantwortlich. Der Innsbrucker ist der Haus-Architekt der Tiroler Unternehmerfamilie Mölk, deren MPreis-Supermärkte schon häufig Auszeichnungen für ihr gutes Design abräumten. In St. Leonhard hat Köberl ein wuchtiges Gebäude aus Beton geschaffen, dessen rötliche Färbung an das eisenhaltige Gebirge rundum erinnert. „Leicht und luftig war keine Option“, sagt Köberl. „Ein Steinbock ist kein Flamingo.“

Museum und Steinbockzentrum sind Phase eins. In Schritt zwei wird Schöpfs Geburtshaus saniert.

von Ernst Partl, Naturpark-Geschäftsführer

Ernst Partl Naturpark-Geschäftsführer

Ernst Partil ist der Geschäftsführer des Naturparks 

Im Inneren ist nur eine Etage dem Steinbock gewidmet. Das andere Stockwerk nimmt die Besucher mit auf eine fotografische Zeitreise in die Vergangenheit, verbindet Natur- und Kulturgeschichte auf geschickte Weise, erklärt die Besiedlung des einst bitterarmen Tales. Dabei steht das Museum auf historischem Grund: Hier befanden sich einst die Stallungen des Schrofenhofs, der bereits 1265 erstmals urkundlich erwähnt wurde und als ältester im gesamten Pitztal gilt. Anfangs des 20. Jahrhunderts lebte Josef Schöpf auf dem Schrofenhof, der als Pionier der Fotografie in Tirol gilt. Auch seine Geschichte ist Teil der Ausstellung.

Naturpark-Chef Partl sieht sich jedoch noch nicht am Ziel. Museum und Steinbockgehege seien lediglich Phase eins. In Schritt zwei will er das Geburtshauses von Schöpf sanieren, in Phase drei dann die Jagd am Schrofen zeigen, um auch diesen Aspekt des Tallebens zugänglich zu machen. So kompetent und umsichtig, wie Ernst Partl das angeht, darf man sicher sein, dass er dabei keinen kapitalen Bock schießen wird.

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