Die Alm prägte Marcel
Ferdl Hirscher wusste damals zwar nicht, dass sein Marcel einmal der weltbeste Alpin- Skifahrer werden sollte. Aber im Rückblick sind sich Vater und Sohn sicher, dass das rustikale Hüttenleben den Bub stark geprägt hat. Erstens gab es die ersten sieben Jahre nicht einmal warmes Wasser. Zum Duschen ging man mit der Gießkanne hinter das Haus. Und wenn es gewitterte, tropfte Regenwasser durch das Dach. Zweitens fehlten Ablenkungen wie Fernsehen und Videospiele. Drittens schulte Marcel beim Herumtollen auf Felsbrocken und Baumwurzeln seinen Gleichgewichtssinn. Und viertens war es ein perfektes Ausdauertraining, wenn er nach dem Schwimmen mit Freunden im Tal zur Hütte hinauf radeln musste.
Seine Kindheit sei sehr speziell gewesen, so Hirscher Junior später. „Ich hab’ brutal viele Erinnerungen an die Alm.“ Der Vater ergänzt: „Wenn man als Kind in dem rumpeligen, welligen, steinigen und schwierigen Gelände das Gehen lernt, entwickelt man ein Gleichgewichtsgefühl, das man schwer aufholen kann, wenn man unten in der Stadt aufwächst.“ Dieser ausgeprägte Sinn für Balance wurde noch offensichtlicher, als der Vater den Sohn mit zwei Jahren auf Skier stellte.
Geduld und Zähigkeit lernte er auf der Alm: „Diese Eigenschaften sind mir früh aufgefallen“, erinnert sich Ferdl. „Mit vier oder fünf Jahren hat er über den Sommer einen riesigen Stein ausgegraben. Mit seinem kleinen Kinderpickel hat er im Frühjahr angefangen, und irgendwann im Herbst hat er ihn draußen gehabt.“ Es folgte eine Zeit, in der Marcel nicht mehr so oft vor der Hütte stand, dafür umso öfter auf dem Siegerpodest. Bis zu seinem Rücktritt 2019 räumte er alles ab, was man gewinnen konnte. Aktuell baut er sich ein Leben nach der Karriere in Abtenau auf, wo er gemeinsam mit Bruder Leon mit der Marke „Van Deer“ unter die Skibauer gegangen ist. Im Sommer nimmt er sich Zeit für Wanderungen in seiner Heimat am Dachstein. Sogar auf die Große Bischofsmütze kletterte er. Und der Vater? „Ferdl schaut immer noch alle zwei, drei Wochen hier oben vorbei“, erzählt Tina Schumacher. Sie und ihr Partner Stephan Wieland haben seit dem Sommer 2022 die Hütte gepachtet.
Die beiden möchten das Haus modern und nachhaltig bewirtschaften. An der Eingangstür hängen Fotos ihrer regionalen Produzenten, eine „Hall of Fame“ vom Bäcker bis zur Eier-Frau, dem Rinderzüchter oder der Dame, die Sirup herstellt. Wichtig ist der Beitrag von Tinas Mama und ihrem Gemüsegarten unten im Tal. Einen solchen gibt es zwar auch oben, aber der ist aufgrund der Höhenlage nicht ganz so ertragreich. „Die Gärten bringen uns fast komplett durch den Sommer“, freut sich Tina. Frische Lebensmittel sind wichtig, weil sie keinen Kühlschrank haben, sondern nur Erdkühlung.
Herrscht einmal wenig Betrieb, stehlen sie sich davon: zum Sonnenuntergang – oder auf die geheime Almwiese, auf der schon Vater und Sohn Hirscher den Gämsen beim Fressen, Spielen und Raufen zugeschaut haben.
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