Höga Kusten: Stinkefisch und Sternenhimmel im schwedischen Winter
Die Dose sieht völlig unscheinbar aus. Aber der Inhalt hat es in sich. Bei falscher Handhabung kann sie schließlich platzen und einen hartnäckigen, furchtbaren Gestank verspritzen. „Das ist Stinkefisch, also Hering, der fermentiert wurde – und hier ist das einzige Restaurant, wo er das ganze Jahr auf der Karte steht“, sagt Johan Kindberg. Der Koch vom Restaurant im Ski-Resort Hallstaberget weiß entsprechend, wie er mit Surströmming, dieser eigenwilligen Spezialität von der schwedischen Höga Kusten, umgehen und die Büchse öffnen muss. Dazu neigt er sie ein wenig, sticht mit dem Öffner durch das Metall und die Gäste am Tisch halten kurz den Atem an.
In diesem Moment stiehlt der olle Hering dem Ausblick über Wälder, Hügel und den Ort Sollefteå unten am Fluss zwar für einige Sekunden die Show. Doch das scheint egal, denn die verschneite Winterlandschaft spielt sonst fast immer die Hauptrolle auf der Reise. Das Besondere hier: Höga Kusten, was übersetzt die Hohe Küste bedeutet, hat die höchste Küstenlinie der Welt. Zwischen der Stadt Härnösand im Süden bis nach Örnsköldsvik im Norden ragt sie bis zu 286 Meter über dem Bottnischen Meeresbusen auf. Der Grund dafür ist die letzte Eiszeit. Als das Eis damals schmolz und die Last von der Landmasse genommen wurde, stieg sie gewaltig an – und steigt sogar bis heute: jedes Jahr um acht Millimeter etwa.
Die außergewöhnliche Küste macht Höga Kusten, die seit dem Jahr 2000 zum schwedisch-finnischen UNESCO-Weltnaturerbe „Schärenküste – Kvarken-Archipel“ gehört und etliche Kilometer ins Landesinnere reicht, zu einem beliebten Wanderziel. Der Höga-Kusten-Trail führt dabei über hundertvierzig Kilometer auf und ab entlang der Küste. Bei knackigen Temperaturen bekommt man aber auch bei kürzeren Hikes einen starken Eindruck, für die man sich am besten die Schneeschuhe unterschnallt.
Über die Högakusten-Brücke
Ausgehend vom „Hotell Höga Kusten“ etwa startet man am eindrucksvollen Hingucker der Gegend: die Högakusten-Brücke. 1.867 Meter ist sie lang, 186 Meter hoch und spannt sich als dritthöchstes Bauwerk in Schweden über den Ångermanälven-Fluss. Damit ist sie fast so lang wie die Golden Gate Brücke in San Francisco. Trotz der Dimensionen drängelt sich aber selbst diese Großkonstruktion irgendwann nicht mehr in die Aussicht. Die gehört dann nur noch der Natur. Auf Schneeschuhen wird teils querwaldein gestapft, teils entlang des erhöhten Flussufers. Bei jedem Schritt knirscht der Schnee, während man zahlreiche Schären-Inseln überblickt, die in unterschiedlichsten Größen vor Höga Kusten liegen.
Wie können wir wieder eine Verbindung schaffen mit uns selbst und der Natur, die uns umgibt? Das sind Fragen, die Jerry Engström umtreiben, der viele Jahre als Marketing-Direktor für eine globale Outdoor-Marke auf der ganzen Welt unterwegs war.
Eisiges Abenteuerdorf
Vor einigen Jahren allerdings übernahm der Schwede in seiner Heimatgegend das Feriendorf Friluftsbyn mit Hütten und Campingplatz und stellte es mit einem neuen Konzept auf den Kopf. Heute bietet das Dorf eine ungewöhnliche Mischung, ist hipper Veranstaltungsort für kulturelle Events genauso wie Ausgangspunkt für Abenteuer in die Natur. Im Winter kann man Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen See oder Schneeschuhwandern auf den Skuleberget. Nach dem Aufstieg, zwischen den Bäumen hindurch und an Findlingen vorbei, hat man oben einen freien Blick auf die Landschaft, die auch hier aus Inseln und Hügeln, Wäldern und Wasser geformt ist.
Natureislaufen in der Bucht
Über die Wanderungen hinaus gibt es im Winter viele Möglichkeiten, die Natur der Höga Kusten zu erleben. In Örnsköldsvik werden die dicken Wanderstiefel gegen Eislaufschuhe getauscht. Jeden Winter wird hier ein sechs bis acht Meter weiter Eis-Parkour auf Natureis angelegt. Dieses Mal schlängelt er sich über vier Kilometer über das Eis der Bucht. Wichtig ist nur, dass das Eis mindestens zehn Zentimeter dick ist. „Im Moment sind es sogar zweiunddreißig“, erklärt Mikael Westman, der für die Instandhaltung verantwortlich und beim Ausflug als Begleitung dabei ist.
Als die Tour unter der Wintersonne beginnt, läuft sein Labrador namens Gucci euphorisch vorne weg. Alle anderen gleiten gemächlich auf dem Eis hinterher. Allerdings muss man auf Natureis aufmerksamer sein, gibt es hie und da doch kleine Hubbel oder Vertiefungen. Die speziellen Eislaufschuhe mit den langen Kufen sorgen aber dafür, dass der Parkour ohne Sturz gemeistert wird.
Sauna und Whisky
Selbst nachts gibt es die Möglichkeit, in der Natur zu sein – beim Glamping, also Komfortcamping, bei Marco und Nicole Pieren von „Glamping Hoga Küsten“. Als Vorbereitung auf die Nacht geht es zunächst in die heiße Sauna. Das Nachglühen der durchdringenden Wärme hilft beim eigentlichen Abenteuer des Abends: die Übernachtung in einem Zelt am Ufer des breiten Ångermanälven-Flusses – mit Ofen, aber ohne Strom.
Tagsüber werden in der „High Coast Distillery“, die in Sichtweite liegt, unterschiedliche Whiskys produziert, die man auf einer Tour durch die Hallen und das Fasslager auch probieren kann. Nachts ist dort und überhaupt in der Umgebung niemand unterwegs. Nur am gegenüberliegenden Ufer sind ein paar Häuser zu sehen.
Anreise Flüge ab Wien nach Umeå mit einem Zwischenstopp in Stockholm z. B. mit einer Kombi von Austrian Airlines und Norwegian Airlines. Ab Umeå weiter mit dem Mietwagen. CO2-Kompensation via atmosfair.de: 34 €
Übernachten
„Glamping Höga Kusten“ bietet Camping mit Komfort – ausgezeichnet mit einem Label für nachhaltigen Tourismus. Mit komfortabel eingerichteten Zelten, die ganzjährig genutzt werden, sowie Sauna und Kota. Man kann auch vor der High Coast Distillery übernachten. Ü/F 130 € für 2 P. im Zelt. glampinghogakusten.com
– Wen es nach Glamping ins Hotel zieht, findet im Hotell Höga Kusten ein Mittelklasse-Hotel mit grandiosem Ausblick auf die Höga-Kusten-Brücke. DZ/F ab 130 €. hotellhoga-kusten.se
Whisky-Tour
Die High Coast Whisky Brennerei kann man auch ohne Glamping-Nacht besichtigen. Tour 17,50 €, Whiskyproben 31 € p. P. Reservierung empfohlen. highcoastwhisky.se
Auskunft
visitsweden.de
hogakusten.com/de
Camping bei minus 15 Grad
Während man vorm Schlafengehen in dicker Winterverpackung vor dem Zelt sitzt, sieht man die Sterne vom tintenschwarzen Himmel glühen. Sogar die Nordlichter lassen sich, wenn auch nur als schwacher, grüner Schweif, kurz blicken. In dieser eisigen Nacht fernab von allem und allen in dieser intensiven Stille zu sein; ja, diesen Moment am einsamen Fluss für sich ganz allein zu haben, ist besonders. Irgendwann aber wird es spät.
Die Kälte kriecht unter die Funktionskleidung und in die Knochen. Also: Schnell ausziehen und mit langer Unterhose, T-Shirt, Schal und Mütze im Schlafsack unter den dicken Decken verschwinden – und sich bis zum Anbruch des Morgens nicht wieder raustrauen. Denn als der Ofen irgendwann ausgebrannt ist, wird es innen so kalt wie außen: minus fünfzehn Grad. Als die ersten Sonnenstrahlen auf das Zelt treffen, muss man sich raustrauen. Es wird ein Lagerfeuer entfacht, frischer Kaffee über den Flammen aufgebrüht, während die Umgebung mit manch Strapaze versöhnt.
Fischduft oder Stinkefisch
Zurück im Restaurant erklärt Johan Kindberg, dass er der einzige Koch ist, der die Konserve mit fermentiertem Hering sogar im Gastraum öffnet. Auch an diesem Tag geht er unerschütterlich selbstbewusst das Risiko ein. Und was passiert, als er mit dem Öffner hineinsticht? Sie bleibt heil, denn er ist ein Profi im Umgang mit der explosiven Luftblase darin. Lediglich ein leises Zischen ist dabei zu hören und kurz darauf zieht ein gammelig schwefeliger Geruch über den Tisch, bevor der Surströmming auf hübschen Häppchen serviert wird. Minimal dosiert ist er sogar für den ungeübten Gaumen essbar und schmeckt nach intensivem Blauschimmelkäse. Die Stinkefisch-Show ist vorbei und Höga Kusten wird wieder zur Hauptdarstellerin.
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