Ein Wort, so lang wie der Wahlkampf

Ein Wort, so lang wie der Wahlkampf
Das österreichische Wort des Jahres 2016 steht fest. Verwenden werden wir es wohl nicht sehr oft.

Es ist so weit: Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän ist nicht mehr das längste deutsche Wort. Der neue Rekordhalter heißt Bundespräsidentenstichwahlwiederholungsverschiebung – und wurde soeben zum österreichischen Wort des Jahres 2016 gekürt. Mehr als ein Drittel der 10.000 abgegebenen Stimmen entfielen auf den Gewinner, gab die Forschungsstelle Österreichisches Deutsch der Universität Graz am Freitag bekannt.

Das Wort sei sowohl inhaltlich als auch wegen seiner Länge "ein Sinnbild und ironischer Kommentar für die politischen Ereignisse dieses Jahres, das vom langen Wahlkampf für die Bundespräsidentenwahl, der Anfechtung der Stichwahl, deren Wiederholung und der Verschiebung derselben gekennzeichnet ist", heißt es in der Begründung der Jury. Sprachlich repräsentiere es eine Eigenart des Deutschen: Indem (beliebig viele) Substantive aneinander gereiht werden, entsteht ein neues Wort.

Deutschland

Auch Spruch, Un-Spruch und Unwort des Jahres beziehen sich auf den außergewöhnlichen Wahlkampf (siehe Grafik). "Völlig logisch", sagt Rudolf Muhr, Germanist und Vorsitzender der Fachjury: "Es gab ja in Österreich fast kein anderes Thema. Die Gewinner-Wörter zeigen, wie verstört die Leute wegen der Wahlwiederholung waren. Wir sind eine gefestigte Demokratie gewöhnt. Plötzlich wurde mit Anschuldigungen, die letztlich haltlos waren, Politik gemacht."

Ein Wort, so lang wie der Wahlkampf

Das deutsche Wort des Jahres – es wurde ebenfalls gestern präsentiert – spiegelt die internationale politische Situation wider: "Postfaktisch" stehe für einen tiefgreifenden politischen Wandel und dafür, dass die öffentliche Diskussion zunehmend von Emotionen statt Fakten bestimmt werde, urteilte die Jury in Wiesbaden.

"Postfaktisch" wurde vor einem Monat schon von den Oxford Dictionaries zum internationalen Wort des Jahres gewählt. Auch hierzulande stand es auf der Liste, landete aber nicht auf den vorderen Plätzen. Warum? "Bei uns hat die Bundespräsidentschaftswahl einfach alles überschattet", meint Muhr. "Außerdem entscheidet in Deutschland eine Fachjury aus Germanisten und Linguisten. In Österreich wissen die meisten Leute gar nicht, was dieses Wort heißt – es ist quasi ein Intellektuellenwort."

Sprachhygiene

Auf eines ist Muhr, der die Wahl zum österreichischen Wort des Jahres 1999 initiiert hat, weil es bis dahin nur ein deutsches Wort des Jahres gab, besonders stolz: "Wir haben eine gewisse sprachhygienische Funktion", sagt er. "Wenn wir ein Wort als Unwort markieren, zählt das auch. ‚Inländerfreundlich‘ wurde zum Beispiel von einer bestimmten Partei danach nicht mehr verwendet, weil es eben einfach ein anderes Wort für ‚rassistisch‘ ist."

Manche "preisgekrönte" Wörter werden dafür in der öffentlichen Sprache immer wieder zitiert. "Nulldefizit", Wort des Jahres 2000, "Hacklerregelung" (2003) oder "Schweigekanzler" (2005) blieben im kollektiven Gedächtnis hängen. "Damit ein Wort in unseren aktiven Wortschatz aufgenommen wird, sollte es relativ kurz und prägnant sein, und in gewisser Weise den Zeitgeist ausdrücken", erklärt Muhr.

Und wie steht es um die prognostizierte Langlebigkeit von Bundespräsidentenstichwahlwiederholungsverschiebung? Der Germanist ist ehrlich: "Das heurige Wort des Jahres wird sicher nicht in den Sprachgebrauch über gehen." Seine Begründung leuchtet ein: "Dafür ist es einfach viel zu lang."

Seit 1999 kürt die Forschungsstelle Österr. Deutsch der Uni Graz (www.oedeutsch.at) in Kooperation mit der Nachrichtenagentur APA jährlich Wort, Unwort, Jugendwort, Spruch und Un-Spruch des Jahres. Im Vorfeld ist jeder aufgerufen, Vorschläge zu schicken. Es spielt keine Rolle, ob das Wort positiv, negativ oder neutral ist. Heuer gab es 4450 Einsendungen, ein neuer Rekord, von denen die Expertenjury 30 auswählte. 12.500 Teilnehmer beteiligten sich anschließend an der Online-Abstimmung, bei der erneut Wörter vorgeschlagen werden konnten. Insgesamt gab es heuer 49.250 Vorschläge. Auf Basis der Ergebnisse des Votings und eigener Überlegungen bestimmte die Jury die Sieger.

Neue Wörter kommen, alte gehen – die deutsche Sprache befindet sich ständig im Wandel. Während bei der Wahl zum Jugendwort des Jahres jährlich Neuschöpfungen präsentiert werden, verschwinden andere Begriffe aus dem Sprachgebrauch. Die bayrische Autorin Petra Cnyrim hat diesen Wörtern ein Denkmal gesetzt: In ihrem "Buch der fast vergessenen Wörter" erklärt sie, warum Begriffe wie "Fisimatenten", "Kassettenrekorder" oder "sapperlot" vom Aussterben bedroht sind.

"In vielen Fällen sind Anglizismen schuld. Die ersten sind in den 1970er- und 1980er-Jahren aufgetaucht. Plötzlich sagte niemand mehr Dauerlauf, alle sprachen auf einmal vom Joggen." Ein anderer Grund sei, dass manche Gegenstände ganz einfach aus unserem Alltag verschwinden. "Mein fünfjähriger Sohn fragte mich kürzlich, was eine Telefonzelle sei", lacht die 41-Jährige. "Ähnlich ist es beim Schallplattenspieler, dem Walkman oder der Diskette."

Kurze Lebensdauer

Die Münchnerin hat in Wien studiert und ist somit auch mit dem österreichischen Deutsch vertraut. "Ein typisch österreichisches Wort, das immer weniger verwendet wird, ist ‚kommod‘ (bequem, Anm.)", beobachtet sie. "Das liegt daran, dass von den Jüngeren kaum noch einer Dialekt spricht."

Ständige Wortneuschöpfungen tragen dazu bei, dass Wörter heute nicht mehr so langlebig sind wie früher, stellt die Autorin fest. "Vor zwei Jahren kam zum Beispiel ‚chillax‘ (ein Mix aus chillen und relaxen, Anm.) auf. Vor einem Jahr hat man es ständig überall gehört, jetzt ist es schon nicht mehr so aktuell."

Dass so viele Wörter verschwinden, findet Cnyrim schade. "Ich halte sie fest, damit man sie jederzeit nachschlagen kann." Sie selbst mag Wörter aus alten Filmen, vor allem eingedeutschte französische wie "Paraplü" (Regenschirm) oder "blümerant". "‚Mir ist blümerant zumute‘ klingt einfach viel eleganter als ‚mir geht’s beschissen‘."

Ein Wort, so lang wie der Wahlkampf
antiquierte Wörter

Petra Cnyrim: „Das Buch der fast vergessenen Wörter“, riva Verlag. 200 Seiten, 15,50 Euro.

Kommentare