Ein Kind braucht die Beziehung, damit sich seine Psyche entwickeln kann. Denn sie bestimmt über die sozialen und emotionalen Fähigkeiten. Das heißt: Ich muss mich auf den anderen einstellen können, ohne darauf zu achten, wie es mir im Moment geht – also, ob ich gerade müde oder hungrig bin. Ich muss meine Gefühle einschätzen und steuern können.
Wie viele betrifft das – und was sind die Folgen, wenn sich die Psyche nicht entwickeln kann?
Viele junge Menschen haben große Probleme, selbstständig zu werden und im Berufsleben anzukommen, wie eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU-nahe, Anm.) zeigt: 50 Prozent der Maturanten sind nicht hochschulreif – sie studieren, obwohl sie aus Texten keine Inhalte herauslesen können. 34 Prozent überstehen nach ihrem Uniabschluss die Probezeit in den Betrieben nicht. Der Grund: Soziale Fähigkeiten wie Arbeitshaltung oder Sinn für Pünktlichkeit fehlen. Sie erkennen Strukturen und Abläufe nicht, und das Handy ist ihnen wichtiger als der Kunde, der vor ihnen steht.
Sie sprechen hier von den Universitäten.
Wir haben das auch im Handwerk, wo mehr als 25 Prozent der Stellen nicht besetzt werden können. Ein Drittel der Betriebe gibt Nachhilfe in Deutsch und Mathematik. Auch in Österreich werden viele Ausbildungsplätze nicht besetzt.
War der Frontalunterricht wirklich besser?
Ja, dort wo der Lehrer die Schüler auf sich bezogen hat.
Ernsthaft?
Ich rede maßgeblich von Kindergarten und Volksschule. Und ich rede nicht über Lernmethoden – wenn man Gruppenunterricht machen will, muss man fordern, dass es kleine Gruppen sind, damit der Lehrer sich um das einzelne Kind kümmern kann. Was mich stört, ist die Ideologie, die sagt: „Man braucht keine Lehrer.“ Je weniger der Pädagoge mit dem Kind in Beziehung und Kontakt ist, desto weniger kann es sich orientieren und desto weniger bildet sich die Psyche.
Wie verändert diese Ideologie den Schulalltag?
Ein Beispiel: Kinder sollen in der Unterstufe die christlichen Feiertage lernen. Dafür gibt es einen Lernbegleiter – das ist keine Person, sondern ein Heft. Das Kind kann jetzt individuell entscheiden, auf welchem Niveau und in welchem Tempo es lernt. Mit dem Lernbegleiter – also dem Heft – überprüft der Schüler selbst seine Leistung. Das ist autonomes Lernen.
Die neuen Lernmethoden, die sie kritisieren, wurden ja entwickelt, weil die Klassen immer heterogener sind.
Es geht mir nicht darum, einzelne Methoden anzugreifen, sondern darum, dass wir Lehrer und keine Lernbegleiter benötigen. Skandalös ist, dass Bildungspolitiker das Prinzip des autonomen Lernens von oben durchgedrückt haben – gegen den Willen vieler Lehrer. Diese sagen das aber aus Angst vor Sanktionen nicht öffentlich.
Wo ist die Verantwortung der Lehrer? Wenn sie der Meinung sind, dass Konzepte falsch sind, kann ihnen ja wenig passieren, wenn sie diese nicht umsetzen.
Es gibt noch personenzentriert arbeitende Lehrer, doch die Junglehrer werden in Richtung autonomes Lernen ausgebildet. Dem Lehrer wird es zudem schwer gemacht, die Verantwortung zu übernehmen. 50 bis 80 Prozent der Kinder, die in der Volksschule sitzen, sind nicht schulreif, weil sie wie Kleinkinder nur lustorientiert sind. Ein weiteres Problem ist, dass immer mehr Eltern in eine symbiotische Beziehung mit dem Kind geraten und somit für ihr Kind denken und fühlen und in die Schule gehen. Die machen es dem Lehrer schwer. Die Schulbehörden sind dann oft keine große Hilfe. Lehrer brauchen Rückendeckung vom Staat, dass sie Kinder zu selbstständigen Personen entwickeln können. Der Lehrer muss endlich wieder als Profi gesehen und wertgeschätzt werden.
Für die psychische Entwicklung sind auch die Eltern verantwortlich.
Viele Eltern stehen unter Druck und haben wenig Zeit für die Kinder. Beide müssen arbeiten gehen, so ist nicht mehr die Ruhe da wie früher – die ist aber maßgeblich dafür, dass sich die Psyche bilden kann. Kindergärten und Betreuungseinrichtungen müssten es auffangen, wenn die Kinder acht Stunden außerhalb der Familie betreut sind. In Deutschland war die Situation schon besser: Es gab Zeiten, da kamen auf 20 Kinder zwei Pädagoginnen. Sie waren immer im selben Raum, es gab gleiche Inhalte und die gleichen Reaktionen.
Es geht also um Rituale, die Kinder brauchen.
Ja, man muss die Kinder an die Hand nehmen und ins Erwachsenwerden führen. Kinder brauchen Anleitung – vieles muss eingeübt werden, und man muss viele Entscheidungen für das Kind übernehmen. Denn das Erwachsenwerden ist ein Hirnreifungsprozess – das ist wie beim Lernen einer Sportart, eines Instruments oder einer Sprache. Wenn jemand autonom Tennis lernen soll, kommt nichts dabei heraus. Selbst als Erwachsene brauchen wir einen Trainer, der uns liebevoll coacht, der uns spiegelt und uns z. B. sagt, dass unsere Vorhand falsch ist. Kinder brauchen das noch viel mehr.
Wie soll das Bildungssystem darauf reagieren?
Wenn ich die Schule so konzipiere, dass dort kein Pädagoge mehr ist, sondern nur Lernbegleiter, verschärfen wir das Problem. Wir müssen auf die 50 Prozent der Kinder, deren Psyche sich nicht entwickeln kann, unser Augenmerk richten, denn sie bleiben emotional auf der Stufe von Kleinkindern. Wenn ich die Schule so konzipiere, dass dort kein Pädagoge mehr ist, verstärke ich das Problem.
Wie viele Schüler sollte ein Lehrer maximal betreuen?
Wenn man es richtig angeht, braucht man im Kindergarten und in der Volksschule zwei Pädagogen für 15 Kinder – und zwar den ganzen Tag.
Was bedeutet diese Entwicklung für unsere Gesellschaft?
Wir werden eine immer größere Gruppe von Erwachsenen bekommen, die nicht arbeitsfähig ist, die sich um sich selbst dreht, die egomanisch und narzisstisch ist. Diese Menschen sind weder beziehungs- noch demokratiefähig. Wir leben in einem Sozialstaat: Der wird nicht funktionieren, weil er darauf aufgebaut ist, dass die Stärkeren die Schwächeren tragen können. Darauf mach ich aufmerksam. Es geht mir nicht nur darum, dass die jungen Menschen nicht mehr sinnerfassend lesen können.
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