Seelsorgerin Wolfers: "Wut ist eine Fluchtroute für Ohnmachtsgefühle"

Seelsorgerin Wolfers: "Wut ist eine Fluchtroute für Ohnmachtsgefühle"
Die Theologin und Philosophin Melanie Wolfers sagt, warum die allgegenwärtige Ohnmacht eine Gefahr für die Gesellschaft ist und wie wir da gemeinsam wieder rauskommen.

Als Ohnmacht zu Wut und die Klimakrise zur Glaubensfrage wurde: die Seelsorgerin Melanie Wolfers über Schuldzuweisungen und Vertrauensfragen.

KURIER: Dieser Tage ist viel vom Gräben Zuschütten die Rede. Sehen Sie, wie das gehen könnte?

Melanie Wolfers: Neben den Gräben nehme ich auch den Willen wahr, aufeinander zuzugehen. Den Willen zur Mitmenschlichkeit. In dem Maß, in dem es uns gelingt, Brücken zueinander zu bauen, können wir die momentanen Herausforderungen bewältigen.

Das ist der Punkt. Die Corona-Gräben sind immer noch da. Damals standen einander individuelle Freiheit versus gesellschaftliches Miteinander gegenüber. Sind da nicht noch viele offene Wunden?

Ganz sicher. Zugleich werden wir, wenn wir beispielsweise die eskalierende Klimakrise hernehmen, auf Dauer nur dann in Freiheit leben können, wenn wir gemeinsam schauen, wie wir den Herausforderungen begegnen. Wenn wir unseren Lebensstil so verändern, dass auch die nachkommenden Generationen ein gutes, selbstbestimmtes Leben in einer einigermaßen intakten Umwelt führen können. Individuelle und gesellschaftliche Freiheit sind keine Gegenpole. Man kann nicht auf Dauer die eine auf Kosten der anderen betonen. Dann kippen beide.

Nun scheint auch die Klimakrise zur Glaubensfrage geworden zu sein. Da ist viel Emotion drin, um nicht zu sagen Wut.

Die Klimakrise ist keine Glaubensfrage. Sie ist wissenschaftlich fundiert.

Seelsorgerin Wolfers: "Wut ist eine Fluchtroute für Ohnmachtsgefühle"

Melanie Wolfers:
„Nimm der Ohnmacht ihre Macht“
bene!. 205 Seiten.
19,60 Euro 

Die Wissenschaft selbst scheint in der Corona-Zeit zur Glaubensfrage geworden zu sein.

Tja, was soll ich dazu jetzt sagen? Ich glaube, wir in unserer modernen Welt, die davon ausgeht, alles kontrollieren zu können, haben in der Corona-Zeit eine kollektive Ohnmacht gespürt. Und Ohnmacht ist ein fürchterliches Gefühl! Ein Verdrängungsmechanismus, um diesem Gefühl auszuweichen, ist die Wut.

Deshalb wird unsere Gesellschaft immer wütender?

Das hat sicher viele Gründe. Grundsätzlich gilt, dass Ohnmacht sich gerne unter der Maske von Wut versteckt. Ein Beispiel aus dem Zwischenmenschlichen: In einer Beziehung, in der sich zwei Menschen voneinander entfremden, fällt es vielen leichter, wütend zu sein, als sich den Schmerz einzugestehen, der mit dieser Entfremdung einhergeht. Wer wütend ist, fühlt sich kraftvoll. Das scheint unserem fragilen Selbstbewusstsein besser zu tun, als sich einzugestehen, dass man in bestimmten Situationen machtlos ist.

Wut ist also eine typische Fluchtroute für Ohnmacht.

Genau. Daneben gibt es noch weitere Fluchtrouten: etwa Schuldgefühle oder Schuldvorwürfe. Schuld zu empfinden oder zuzuweisen, fällt leichter, als sich mit der Realität zu konfrontieren, dass wir gewissen Dingen wie Krankheit und Tod ausgeliefert sind. Ein gutes Beispiel sind Verschwörungstheorien. Irgendwo einen Schuldigen auszumachen, scheint leichter zu sein, als zu akzeptieren, dass wir als Gesellschaft manchmal keine einfachen Antworten haben.

Melanie Wolfers studierte Theologie und Philosophie in Freiburg und München. Seit 2004 lebt sie in einer christlichen Ordensgemeinschaft in Wien. Sie betreibt den Podcast "Ganz schön mutig", zu finden unter melanie.wolfers.de

 

 

 

 

Das ist dann auch die Stunde der Populisten.

Richtig. In Deutschland hat ein Politiker, der hessische Finanzminister Thomas Schäfer, am Höhepunkt der Corona-Krise den Freitod gewählt. Natürlich bleiben viele Fragen offen, wenn jemand sich das Leben nimmt. Doch seine offenkundige Verzweiflung darüber, dass er den Ansprüchen der vielen nicht gerecht werden kann, sprach Bände, unter welchem Druck er stand: In einer neuen Situation kann man nur Schritt für Schritt vorangehen und muss doch zugleich weitreichende Entscheidungen treffen. Und man kann nur hoffen, von zwei Übeln das geringere gewählt zu haben: Wenn man in Corona-Zeiten Ausgangsbeschränkungen verhängt, kostet es Leben – wenn man sie nicht verhängt, ebenso. Der Ukraine schwere Waffen zu liefern, bringt Menschen den Tod – sie nicht zu liefern, ebenso. Wer in solchen Zeiten politische Entscheidungen trifft, wird Fehler machen. Es gibt keine einfachen Lösungen. Das zu akzeptieren, täte uns Bürgerinnen und Bürgern gut.

Doch die Populisten versprechen einfache Lösungen.

Patentlösungen gibt es nur aus der Trickkiste der Demagogen. Thomas Schäfer schrieb in einem seiner letzten Tweets: „Wir können nicht zaubern. Sondern nur das Menschenmögliche tun, um Schaden von unserem Land abzuwenden.“

Ausgerechnet ein so klarsichtiger, vernünftiger Mensch hat selbst keinen Ausweg gesehen.

Deswegen ist es so wichtig, das Gefühl der Ohnmacht zu thematisieren. Auch öffentlich. Dann können auch Wege aus der Krise gefunden werden.

Und das Gräben Zuschütten?

Wenn wir ständig von Gräben sprechen, wird diese Rede irgendwann zu einer selbst erfüllenden Prophezeiung. Doch das Gegenteil ist der Fall: Vertrauen ist die Norm! Jedes Mal, wenn ich die Straße überquere, vertraue ich darauf, dass die Autofahrer stehen bleiben. Ich vertraue darauf, dass man mir auf der Bank kein Falschgeld und in der Apotheke kein Gift gibt. Unser Alltag lebt von Vertrauen. Achten wir darauf, welche Geschichten wir erzählen. Da ist auch der Journalismus gefragt. Erzählen wir von Mitmenschlichkeit und Solidarität.

Gelingt Vertrauen, und zwar nicht nur das alltägliche, sondern ein gewisses Urvertrauen, besser, wenn man Teil einer Glaubensgemeinschaft ist?

Glauben bedeutet Vertrauen. Vertrauen in einen guten Grund des Lebens; vertrauen, dass diese Welt im Großen und Ganzen geborgen ist. Viele Menschen gehen mit einem solchen Vertrauen durchs Leben. Als Glaubende kann ich dem einen Namen geben. Biblisch gesprochen: Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.

Auch für Menschen, die ein ausgeprägtes Urvertrauen haben, kann der momentane Lauf der Welt ganz schön herausfordernd sein.

Absolut. In meinem Buch gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte: Ohnmachtserlebnisse gehören zu unserem Leben. Die gute: Wir sind diesen Erfahrungen nicht hilflos ausgeliefert. Sich ohnmächtig fühlen, heißt noch lange nicht, ohnmächtig sein. Ich denke etwa an den Klimawandel. Es ist nicht wahr, dass der Einzelne nichts tun kann. Es gibt den wissenschaftlichen Begriff der „Tipping Points“, der „Kipppunkte“: Eine kleine, kritische Masse, die sich für eine Sache engagiert einsetzt, kann zum Umkippen gesellschaftlicher Gewohnheiten führen. Mit jedem Schritt, den wir in Richtung einer nachhaltigen Zukunft setzen, leisten wir daher einen Beitrag auf dem Weg zum erhofften Umschwung. In meinem Buch entfalte ich sieben solche inneren Kräfte, die der Ohnmacht ihre Macht nehmen und positive Energie freisetzen, etwa die Kraft der Freude, des Vertrauens und der Zuversicht.