Kontemplation: Die Macht der Stille in lauten Wochen

Kontemplation: Die Macht der Stille in lauten Wochen
Der Advent war einst eine stille Zeit, heute ist davon nicht mehr viel übrig. Warum es sich in den Wochen vor Weihnachten dennoch lohnt, innezuhalten.

"Die größten Ereignisse sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden." Friedrich Nietzsche

"Muss noch dies. Muss noch das. Muss noch jenes und irgendwas. Muss noch hier, muss noch da. Und muss noch viel viel mehr ... Bla bla bla." Gut möglich, dass Ihnen diese Zeilen bekannt vorkommen: Sie entstammen dem neuen Werbespot einer deutschen Supermarktkette, in dem gehetzte Eltern vor lauter Kekse-Backen, Lichterketten-Aufhängen und Geschenke-Kaufen ihre Kinder vernachlässigen. Die Conclusio nach eineinhalb berührenden Minuten: "Das schönste Geschenk ist deine Zeit."

Mit seinem Spot greift Edeka eines der größten Trendthemen des Jahres auf: Achtsamkeit, auf Englisch "Mindfulness" – per Definition das bewusste Lenken der Aufmerksamkeit auf die Gegenwart. Da sein, Zeit nehmen. "Achtsamkeit ist auf dem besten Weg, den faden Begriff der Wellness abzulösen", schrieb Trendforscher Matthias Horx vor einem Jahr im Zukunftsbericht 2016, und tatsächlich: Büros richteten Yoga-Räume für die Mitarbeiter ein, Mindfulness-Apps leiten zum richtigen Atmen oder Meditieren an. Der britische Guardian rief jüngst dazu auf, sich am Glücksprinzip der Dänen – "Hygge" genannt – zu orientieren: es sich zu Hause gemütlich machen, Kerzen anzünden, eine heiße Schokolade trinken. Und die Welt draußen einfach mal Welt sein lassen.

Ruhesuchende Manager

Dass gerade im Advent wenig Zeit zum Innezuhalten bleibt (siehe Edeka-Spot), scheint paradox – wurden die Wochen vor Weihnachten doch früher "die stille Zeit" genannt. Schon im siebten Jahrhundert bereiteten sich Christen auf die Ankunft des Herren vor, indem sie sich zurückzogen und in sich gingen. Kontemplation – abgeleitet vom lateinischen Wort für "Betrachtung" – heißt die spirituelle Form der Achtsamkeit, die auch heute noch an vielen Orten praktiziert wird.

Kontemplation: Die Macht der Stille in lauten Wochen
prayer - candle in hands in the darkness Urheberrecht:RomoloTavani Stock-Fotografie-ID:522078867 Hochgeladen am: 6. November 2014

Sogar da, wo man es am wenigsten vermuten würde: in der Großstadt. Ins Kardinal-König-Haus im 13. Wiener Bezirk kommt, wer sich ein paar Tage vom Trubel des Alltags zurückziehen möchte. Das Seminar "Tage der Stille" im Advent wurde so oft nachgefragt, dass es kommendes Jahr doppelt angeboten wird, berichtet Schwester Christa, die die Ruhesuchenden während ihrer Zeit im Haus begleitet. "Wenn Menschen in die Stille gehen, bewegt sich sehr viel in ihnen", sagt sie. Nicht nur religiöse Menschen suchen hier ihre Mitte – mittlerweile werden eigene Exerzitien für Führungskräfte angeboten.

Mythos Multitasking

Man kann es ihnen nicht verdenken. Das Arbeitsleben wird schneller und schneller, auf dem Handy-Display poppen im Minutentakt neue Nachrichten auf, die es zu beantworten gilt. Man hechelt durchs Jahr – und wundert sich Anfang Dezember, dass es schon wieder fast vorüber ist. Der ehemalige Harvard-Professor Daniel Goleman bezeichnete die vermeintliche Fähigkeit zum Multitasking schon vor zwei Jahren als "Fiktion": Wer vieles gleichzeitig abzuarbeiten versuche, dem gelinge nichts richtig. Und auch die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie warnte vergangene Woche, dass die permanente Reizüberflutung und der steigende Leistungsdruck langfristig negative Folgen auf die seelische Gesundheit haben könnte (der KURIER berichtete). Ihre Empfehlung: "Einfach einmal nichts tun."

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Psychologe Goleman rät in seinem Buch "Konzentriert Euch! Eine Anleitung zum modernen Leben" zu regelmäßigen Atem- und Aufmerksamkeitsübungen. Er selbst meditiert jeden Tag. Denn: "Je stärker wir abgelenkt sind, desto seichter werden unsere Gedanken. Und je kürzer unsere Überlegungen sind, desto trivialer werden sie."

Achtsamer Advent

Nichts tun, meditieren oder einfach nur einer Kerze beim Brennen zusehen – zwischen Arbeitsstress und Konsumwahn fällt es schwer, abzuschalten und die Gedanken auf den Moment zu lenken. Wohl gerade deshalb ist das Internet voller Tipps für einen achtsamen Advent; auf www.psychologytoday.com etwa hat ein Psychologe einen Zehn-Tage-Plan zur prä-weihnachtlichen Stressreduktion zusammengestellt. Er beinhaltet bewusstes Schokolade-Essen oder kurze Spaziergänge (zum Beispiel Richtung Einkaufsstraße). Andere Achtsamkeitsexperten empfehlen, Zeit für das Schreiben von Weihnachtskarten einzuplanen und sich für jeden Adressaten einen persönlichen, netten Satz zu überlegen.

Man könnte es auch einfach so machen wie die Dänen: Ab auf die Couch, eine Tasse heißen Kakao trinken und – nicht vergessen – die erste Kerze auf dem Adventkranz anzünden.

Seit 21 Jahren lebt Pater Alfred im Benediktinerstift St. Lambrecht in der Steiermark. Vier Mal pro Tag wird die Arbeit für ein gemeinschaftliches Gebet unterbrochen. "Die Gebetszeiten helfen mir, Ruhe zu finden, um mit neuer Kraft in die nächste Aufgabe gehen zu können", sagt der 40-Jährige. "Viele Gäste sind dankbar, wenn sie in diesem Tagesrhythmus mit uns leben können. Sie merken, Ordnung schafft Leben."

Am ersten Adventsonntag beginnt nicht nur die Weihnachtszeit, sondern auch ein neues Kirchenjahr. "Im Vergleich zum profanen Jahreswechsel beginnt das Kirchenjahr ruhig und still. Im Laufe eines Jahres kann es passieren, dass man die Orientierung verliert. Diese stille Zeit soll mir helfen, mein Leben neu auszurichten, damit das, was in mir Mensch werden möchte, zum Vorschein kommt." Sich auf die Adventzeit einlassen bedeutet warten können, so der Pater. "Advent heißt Ankunft. Wir haben das Warten verlernt. Warten heißt Zeit haben, um dann ganz bei der Sache sein zu können."

Seit 20 Jahren sucht Angelika Eller (43) die Stille. Drei bis vier Mal pro Jahr verbringt sie mehrere Wochen auf Puregg, einer Alm in Dienten am Hochkönig. Im "Haus der Stille", gegründet 1989 vom Benediktinermönch David Steindl-Rast und dem Buddhismus-Priester Vanja Palmers, können Ruhesuchende aller Religionen (oder ohne) an Kursen teilnehmen oder mehrere Wochen den klösterlichen Alltag mitleben – inklusive fixer Schweigezeiten.

"Das Reden wird auf ein paar Stunden beschränkt. Man merkt rasch, dass man sich mit den anderen in der Stille verbundener fühlt. Man spürt einander mehr. Reden lenkt oft unnötig ab", erzählt die Sozialarbeiterin. "Wenn wir lernen – und da ist die Stille sehr hilfreich –, konzentriert das zu tun, was wir gerade tun, merken wir, dass wir lebendiger werden. Viele Menschen, die immer wieder nach Puregg kommen und das Haus als Heimat sehen, schätzen die Stille, weil sie menschlicher macht."

Schon als Kind konnte Harald Koisser Lärm nicht viel abgewinnen. "Stille war immer eine gute Freundin von mir", erzählt der Philosoph und Mentaltrainer. Aus seiner Faszination wurde ein Buch: In "Die Rückeroberung der Stille" zeigt er Auswege aus Stress und Reizüberflutung. "Einsamkeit hat heute keinen Stellenwert mehr. Dabei müssen wir alleine sein, um uns zu sammeln. Nur, wenn ich die Aufmerksamkeit nach innen richte, kann ich herausfinden, wer ich bin und was ich will."

Koisser, der als Fastenbegleiter tätig ist und auf Schloss Eschelberg Auszeitprogramme anbietet, legt ein Mal im Quartal mit seiner Frau einen "Tag der Stille" ein. Im Advent rät er, die Raunächte zu genießen und nur das Nötigste zu erledigen. "Man könnte auch eine Schweigewanderung mit Freunden machen – still nebeneinander gehen und die Umgebung genießen. Wem das zu viel ist: Einfach mal das Handy ausschalten und statt einer WhatsApp-Nachricht einen Brief schreiben."

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