Ist Angst das neue Lebensgefühl?

Krieg, Anschläge und Terrordrohungen, dazu täglich neue Meldungen – ist Angst das neue Lebensgefühl?
Der deutsche Forscher Borwin Bandelow über ein diffuses Lebensgefühl namens Angst – und warum wir uns nicht mehr fürchten müssen als sonst.

Nach dem Terror in Paris empfinden viele Menschen eine diffuse Verunsicherung, wie auch eine Online-Umfrage unter KURIER-Lesern ergab. Der Angstforscher und stv. Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni Göttingen, Borwin Bandelow, versucht zu beruhigen.

KURIER: Anschläge und Terrordrohungen in Europa, dazu täglich neue Meldungen – ist Angst das neue Lebensgefühl?

Borwin Bandelow: Wir wissen heute, dass bei Terror-Anschlägen wie etwa 9/11 nicht mehr Leute in die Angstambulanz kamen als sonst. Trotzdem merkt man an dem, was die Leute reden, dass sie Sorgen und Ängste haben.

Sie haben tatsächlich den Eindruck, dass die Menschen heute nicht mehr Angst haben als früher?

Es ist nicht so, dass wir allgemein ängstlicher sind. Angst begleitet uns jeden Tag durchs Leben, ohne dass wir es merken. Sie schützt uns, dass wir nicht unvorsichtig sind und zum Beispiel als Radfahrer überfahren werden. Aber eine ängstlichere Gesellschaft? Nein, das kann man nicht sagen. Fragen Sie die Leute in Bagdad, die haben auch nicht mehr Angst als die Leute in Wien, obwohl die Chance dort, bei einem Terror-Anschlag ums Leben zu kommen, sehr viel höher ist. Oder denken Sie an die Leute in Kapstadt oder Johannesburg, wo das Risiko, ermordet zu werden, deutlich höher ist. Auch dort sind die Menschen fröhlich und lachen. Sie adaptieren sich an die allgegenwärtige Gefahr.

Stichwort Islam: Die radikalen Islamisten und ihre ebenso radikalen Gegner mobilisieren mit der Angst.

Menschen haben eine mehr oder weniger ausgeprägte Xenophobie – Fremdenangst. Sie haben in ihrer Entwicklungsgeschichte überleben können, weil sie eine gewisse Fremdenangst hatten. Als sich Stämme noch um die Nahrung schlagen mussten, weil diese begrenzt war, haben diejenigen überlebt, die sich abschotten konnten. Heute hat jeder von uns noch ein Minimum an Fremdenangst in sich. Dann kommt ein Demagoge und schürt – so wie schon einmal in Deutschland und Österreich – die Grundängste bei vielen Menschen und mobilisiert sie in Richtung Fremdenfeindlichkeit. Auf der anderen Seite haben Menschen aber auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl, eine Grundfreundlichkeit und möchten die anderen schützen, weil das genetisch bedingt ist. Sonst hätte die Menschheit auch nicht überlebt.

Können diese Grundängste vor Terror und etwa Islam die Gesellschaft spalten?

Das vermag ich nicht zu sagen. Aber ich beobachte, dass die Menschen zwischen Muslimen und Islamisten unterscheiden. In Deutschland ist es zumindest so, dass sich Muslime zusammentun und gegen Islamisten protestieren, da sie genauso Angst vor einem Islamischen Staat oder vor Al-Kaida haben. Auch Muslime wollen sich gegen Terroristen schützen.

Angstszenarien sind in der Berichterstattung omnipräsenter denn je, es wird permanent über Ebola, Terror und Krisen berichten. Erzeugen Medien "Angstbürger"?

Menschen wollen schreckliche Dinge hören und lesen. Ich nenne es das Achterbahn-Prinzip: Wenn Sie in der Achterbahn sitzen, wird Ihnen von Ihrem primitiven Angst-System vorgegaukelt, dass Sie in der nächsten Kurve rausfliegen. Wenn man dann die Gefahr unbeschadet übersteht, gibt es eine Ausschüttung von Wohlfühlhormonen im körpereigenen Belohnungssystem. So liest man durchaus gerne schreckliche Nachrichten über andere. Wenn in Frankreich 17 Menschen sterben, ist das viel schlimmer für uns, als wenn Boko Haram in Nigeria 2000 Menschen tötet. Je näher dran, desto mehr fühlen wir uns betroffen. Da es aber nicht uns direkt betroffen hat, haben wir, merkwürdigerweise, eine Ausschüttung von Glücksgefühlen.

Was kann man tun, damit das Gefühl der Angst den Alltag, die Gesellschaft nicht womöglich zu lähmen droht?

Diese Ängste kommen zumeist nur in Wellen. Nach mehreren Wochen geht sie von sich aus zurück, weil sich die Menschen daran gewöhnen. Auch wenn im Moment die Angst groß ist, wird die Gefahr statistisch falsch eingeschätzt.

Selbst wenn morgen ein schrecklicher Anschlag in Österreich passieren würde, ist das individuelle Risiko für einen Österreicher, dabei ums Leben zu kommen, extrem gering. Menschen haben viel mehr Angst vor Terrorismus als bei einem Autounfall zu sterben. Das Leben ist nicht risikofrei, es passiert ständig etwas.

Was raten Sie besorgten Eltern, die Angst um ihre Kinder haben?

Die Kinder sind nicht mehr gefährdet als früher. Sorgen, dass man in Wien nicht mehr am Graben spazieren gehen kann, sind völlig absurd. Aber das wird auch wieder abebben. Doch klar, gerade um Kinder macht man sich besonders Sorgen. Dabei sind Mütter vorsichtiger als Väter.

Sie selbst haben drei Kinder. Haben Sie Angst um sie und wenn ja: Wie gehen Sie persönlich mit dieser Angst um?

Nein, da habe ich keine Sekunde nachgedacht. Die halten sich auch nicht dort auf, wo man mit Terroranschlägen rechnen müsste.

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