Verlernen wir die Handschrift, weil wir nur noch tippen?
Immer mehr Erwachsene und Kinder können nicht flüssig schreiben, dabei
ist die Schreibschrift auch im digitalen Zeitalter wichtig für das Gedächtnis
und die Denkleistung.
Mehr Feder und Bleistift statt Tablet – im Herbst hatte Schweden angekündigt, digitales Lernmaterial für Schulkinder einschränken zu wollen. Zahlreiche deutsche Wissenschafter halten das für sinnvoll. Tatsache ist, dass Europäer immer seltener zum Stift greifen. Und das, obwohl flüssiges Schreiben beim Strukturieren von Gedanken hilft, wie die Expertin Marianela Diaz Meyer vom Schreibmotorik Institut im Interview erklärt.
KURIER: Kann man generell sagen, dass der durchschnittliche Europäer aufgrund von PC, Handy und Tablets immer weniger schreibt?
Marianela Diaz Meyer: Tatsächlich schreiben die Menschen immer weniger mit der Hand. Statt Briefen werden Emails geschrieben und Einkaufslisten ins Handy getippt. Zugleich gibt es aber eine Gegenbewegung, gerade bei jungen Leuten, wie der Trend zum Journaling zeigt. Viele Menschen merken, dass man Erlebtes anders verarbeiten und sich Dinge besser merken kann, wenn sie handschriftlich notiert werden. Auch in Unternehmen, die sehr digital arbeiten, werden viele Prozesse erst einmal mit der Hand gedacht.
Verändert sich unsere Handschrift durch das viele Tippen?
Die Handschrift selbst verändert sich dadurch nicht. Allerdings fällt vielen Menschen das Handschreiben durch mangelnde Routine zunehmend schwerer. Die Hand fühlt sich ungelenk an, der Fluss beim Schreiben stellt sich oft nicht richtig ein. Aber mit regelmäßiger Übung ist man schnell wieder drin. Wir vom Schreibmotorik Institut haben herausgefunden, dass dafür schon eine Stunde pro Woche reicht.
Brauchen wir eine Handschrift im digitalen Zeitalter überhaupt noch?
Auf jeden Fall. Handschreiben ist unglaublich wichtig – besonders für Kinder und Jugendliche.Nur wenig ist für deren kognitive Entwicklung so bedeutsam wie das Schreiben von Hand. Der Einsatz von über 30 Muskeln und 17 Gelenken in Armen und Händen beim Schreiben hilft beim Verstehen, beim Erinnern, beim Strukturieren von Gedanken und bringt auf neue Ideen.
Während beim Tippen nur ein Teil des Gehirns aktiviert wird, findet beim Handschreiben eine regelrechte Neuronen-Explosion im Kopf statt. Weil jeder Buchstabe einzigartig ist, legt das Gehirn beim Schreibenlernen für jeden Buchstaben eine eigene Gedächtnisspur an, die auch beim Lesen aktiviert wird. Das Schreiben von Hand macht also schlauer.
Beginnen in Deutschland und Österreich die Kinder zu spät mit der Handschrift? Sollte bereits in Kindertagesstätten auf das richtige Halten von Stiften geachtet werden? Oder die Stärkung der Handmuskulatur?
Es geht nicht darum, früh schreiben zu lernen. Doch schon im Kindergarten sollte mit der spielerischen Vorbereitung angefangen werden. Und damit meine ich nicht einen umfangreichen Essay, sondern einfach Krickelkrakel. Damit bekommen die Kinder ein Gefühl für den Stift und trainieren bereits ihre Feinmotorik. Die ist besonders wichtig für das Schreiben von Hand. Ebenso stärken Basteln, Kneten, mit der Schere schneiden, aber auch Sport die feinmotorischen Fähigkeiten und das Körpergefühl der Kinder.
Jeder Mensch hält den Stift ein wenig anders: Was wäre die richtige Haltung? Und sollte man Kinder umlernen?
Es gibt nicht DIE richtige Stifthaltung für das Schreiben von Hand – das ist sehr individuell. Wichtig ist aber, dass der Stift leicht und locker in der Hand liegt. Und genau damit haben immer mehr Kinder und Jugendliche durch den zunehmenden Mangel an feinmotorischen Fähigkeiten Schwierigkeiten. Jedes dritte Mädchen und sogar mehr als jeder zweite Junge in der Volksschule in Deutschland haben Probleme beim Schreiben, wie die STEP-Studie 2022 vom Schreibmotorik Institut und dem Bildungsverband VBE ergeben hat. Nur zwei von fünf Schülern in der Sekundarstufe können 30 Minuten und länger beschwerdefrei schreiben. Viele klagen dann über Schmerzen, Verkrampfungen und Ermüdungserscheinungen. Immer mehr Kinder müssen deshalb bereits einen Ergotherapeuten aufsuchen. Auf der Internetseite haben des Schreibmotorik Instituts gibt es dazu auch kostenfrei Übungen, die wir aus unseren Forschungsarbeiten evaluiert haben.
Kann jedes Kind, jeder Erwachsene das leserliche Schreiben erlernen: Geht es nur um die Technik? Oder gibt es Menschen, die nur schlampig schreiben können?
Jeder kann lernen, leserlich zu schreiben. Das ist eine Frage der Übung. Es genügt, wie gesagt, bereits eine Stunde schreibmotorisches Training pro Woche, damit Kinder signifikant besser und schneller schreiben lernen. Das haben wir nachgewiesen. Und das dürfte auch bei Erwachsenen funktionieren.
In Österreich lernen Volksschüler das Schreiben von Blockstuben mit Bleistift, die Schreibstift mit Füllfedern. Gibt es da Empfehlungen aus wissenschaftlicher Sicht?
Nicht von unserer Seite. Das Schreibmotorik Institut beschäftigt sich ausschließlich damit, wie das Schreiben von Hand funktioniert, welche Auswirkungen es auf unser Gehirn und damit auf unsere Entwicklung hat. Für uns ist dabei relevant, wie locker der Stift in der Hand liegt und wie leicht das Schreiben gelingt.
In manchen Staaten der Welt wie in den USA wird keine einheitliche Schreibschrift gelehrt, sondern die Blockbuchstaben individuell verbunden. Wie wichtig ist es für die Kultur der Handschrift, ob wir die Lateinschrift können, so wie wir es in Deutschland und Österreich noch lernen?
Das Verbinden der Buchstaben erfüllt einen bestimmten Zweck. Dadurch wird die Handschrift flüssig, folgt einem bestimmten Rhythmus und das Schreiben geht zügiger von der Hand. Der Prozess des automatisierten Schreibens – also, dass nicht mehr darüber nachgedacht werden muss, wie man etwas schreibt – ist ohnehin erst in einem Alter von 15 bis 16 Jahren abgeschlossen. Dann kann man sich auf den Inhalt konzentrieren. Und auch das ist mittlerweile verbrieft: Wer fit im Handschreiben ist, erbringt bessere schulische Leistungen und hat damit auch bessere Zukunftschancen. Handschreiben ist also Bildung.
Ältere Generationen haben in der Schule auch Schönschrift gelernt. Was sagt die Wissenschaft heute dazu?
Gut von Hand schreiben zu können, hat drei Aspekte: Leserlichkeit, Schreibtempo und Ausdauer. Deshalb geht es in der Schule längst nicht mehr ums Schönschreiben, sondern um die Entwicklung einer lesbaren und flüssigen Handschrift. Es ist nicht mehr wichtig, dass die Kinder beim Schreiben auf der Linie bleiben und sie müssen auch nicht den Bogen eines G perfekt hinbekommen. Schönschreiben ist also out. Was in ist – und bleibt –, ist Leserlichkeit.
Möglich, dass die Handschrift eines Tages ausstirbt? Oder erkennen Sie durch das trendige Handlettering eine Renaissance?
Davon gehen wir nicht aus. In den Schulen und bei anderen Bildungsträgern weiß man um die Bedeutung des Handschreibens für die kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Gerade haben sich in Deutschland über 40 Wissenschaftler dafür stark gemacht, den Einsatz digitaler Medien im Unterricht zu reduzieren, weil es Kinder bis zur sechsten Klasse – ich zitiere – "nicht schlauer, sondern dümmer macht".
Über Trends wie Handlettering und Journaling freuen wir uns natürlich. Aber es wäre vor allem wünschenswert, wenn das Wissen um die Bedeutung der Handschrift letztlich dazu führt, dass dem Thema im Lehrplan mehr Zeit gewidmet wird. Das funktioniert auch im normalen Unterricht und fächerübergreifend. Dafür haben wir gemeinsam mit Kooperationspartnern das Zertifikat Schreibmotorik-Schule in Europa entwickelt. Es geht dabei um eine in den Unterricht eingebundene Förderung des Handschreibens.
Konkret heißt das, in die Fächer Deutsch, Mathematik, Musik, Sport, Werken und Gestalten werden Übungen integriert, die die Fein- und Grobmotorik fördern. Und weil die Schreibgeschwindigkeit und die Motivation der Schülerinnen und Schüler deutlich profitieren, lässt sich die Zeit für die Förderung dann wieder einsparen – etwa, weil das Abschreiben von der Tafel viel schneller erledigen geht. Die Rückmeldungen aus den teilnehmenden Schulen waren unglaublich positiv.
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