Krieg ist die Zeit der großen Gefühle
Viele Stunden haben wir in den vergangenen Tagen vor dem Fernseher oder im Internet verbracht und mit den Ukrainern mitgefiebert. Vielen drückt es die Tränen in die Augen, wenn sie die Reden des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij verfolgen. Der Kampf zwischen David und Goliath lässt kaum jemanden kalt. Wir begleiten den Krieg als Zaungäste und durchlaufen ein Wechselbad der Gefühle.
Solidarität, Mitgefühl und Angst
Die überwältigende Sympathie für die Ukraine wäre ein gutes, wichtiges Gefühl. Nicht nur für die Ukrainer, sondern auch für uns selbst, erklärt Ute Frevert, Direktorin des Forschungsbereich Geschichte der Gefühle am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. „Denn jeder, der auf einer Anti-Kriegsdemonstration war, kommt mit einem guten Gefühl nach Hause.“ Selbst symbolische Handlungen, wie blau-gelb beleuchtete Gebäude wären für die Menschen in der Ukraine eine Unterstützung, sagt Frevert, da sie sich in ihrer Not nicht alleine gelassen fühlen. Direkte Hilfe, wie die Aufnahme von Flüchtlingen oder das Spenden von Hilfsgütern und finanziellen Mittel, lindern das Leid natürlich spürbarer.
Der Krieg in der Ukraine löst in vielen Österreicherinnen und Österreichern auch Angst aus. Jeder Zweite befürchtet, dass der Krieg auf andere Länder Europas übergreifen könnte. Jeder Dritte fürchtet sich vor dem Einsatz atomarer Waffen. Wenn die Angst zu groß wird, lähmt sie uns, erklärt Frevert. In diesem Fall ist es sinnvoll, Unterstützung zu suchen. Das kann ein Gespräch mit Freunden und Familie, das Abschalten der Nachrichten oder das Treffen von Vorkehrungen sein. Jedem hilft etwas Anderes.
- Telefonseelsorge: 142
- Rat auf Draht: 147 (speziell für Kinder und Jugendliche)
- Notfallpsychologischer Dienst Österreich: 0699/ 188 554 00
- Psycho-Sozialer Dienst: 01/31330
- Kriseninterventionszentrum: +43 1 406 95 95
- Psychosozialer Krisendienst: 0800 400 120
- Notfall-Hotline Außenministerium: 01/90115 4411
Bewunderung und Stolz
Die Emotionspalette ist groß. Während Entsetzen, Empörung und Angst vorherrschen, kommt es auch zu Verehrung und Stolz auf unsere mutigen Nachbarn. Präsident Selenskij entwickelte sich in der vergangenen Woche vom TV-Star zum Kriegshelden. Als der Target No. 1 seine Bevölkerung mit Waffen ausrüstet und dazu aufruft Molotow-Cocktails vorzubereiten, wird in Europa und Amerika Bewunderung für den heroischen Mut laut. Obwohl kaum jemand daran zweifelt, dass die Ukraine gegen die russischen Streitkräfte keine Chance hat und durch diese Aktion vermutlich noch mehr Zivilisten sterben müssen.
Den Historiker Florian Wenninger emotionalisiert die Emotionalisierung der Debatte. „Was uns bewegt, ist der verzweifelte Mut von Ohnmächtigen. Der Mann, der mit der Zigarette im Mund eine Bombe mit bloßen Händen wegträgt, zum Helden hochstilisiert. Diese Taten zu feiern, ist völlig irrational.“ Vielmehr sollten wir einen kühlen Kopf bewahren, denn anstatt Aufrüstung und Waffenlieferungen, wären friedlicher Widerstand und Friedensverhandlungen unsere stärkste Waffe. Das koste weniger Menschenleben und würde mindestens zum selben Ergebnis führen.
Gefühlswandel
Gefühle sind nicht konstant, sie können sich über die Zeit ändern. Die Geschichte lehrt uns, dass sich Solidarität und Anteilnahme in Ablehnung verwandeln können. Florian Wenninger erinnert an den Ungarn-Aufstand 1956. Damals wurden die ungarischen Flüchtlinge zunächst mit offenen Armen aufgenommen. Nachdem sie kostenlose Straßenbahnkarten bekommen hatten, war es allerdings mit der Anteilnahme vorbei. In der Flüchtlingskrise 2015 waren es moderne Handys, die die Hilfsbereitschaft gebremst hätten, weil man damit annahm, dass es den Menschen ohnehin nicht so schlecht gehe. Ob sich die Geschichte in diesem Fall wiederholt, wissen wir nicht. Im Moment wäre es, laut Ute Frevert, wichtig, dass die Menschen in der Ukraine die Solidarität des Westens spüren. Nicht von Präsident zu Präsident, sondern von Volk zu Volk.
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