Wie gibt man Menschen Hoffnung, wenn die Familie ermordet oder verschleppt wurde? Der Psychiater Benjamin Vyssoki begleitet in Wien Menschen, die durch den Krieg in Israel traumatisiert sind.
Benjamin Vyssoki in diesen Tagen zu erreichen, ist eine Herausforderung. Mit unzähligen Patienten hat der Facharzt für Psychiatrie in den vergangenen Tagen und Stunden gesprochen. Mit Kollegen beraten und Medienvertreterinnen geredet – zu viele, um eine Zahl zu nennen. „Aber immer ging es um das gleiche Thema: diesen furchtbaren Krieg in Israel“.
Vyssoki ist ärztlicher Leiter von Esra, einem psychosozialen Gesundheitszentrum und Partnerorganisation der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG). Mit Kriegsausbruch in Israel richtete das Zentrum eine Hotline für betroffene Jüdinnen und Juden ein. Es melden sich Menschen aus Wien, deren Verwandte und Freunde in Israel ermordet oder als Geiseln genommen wurden. Aber auch Menschen, die die Terroranschläge vor Ort selbst miterlebt haben. Oder Eltern, die nicht wissen, wie sie ihren Kindern vom Terror erzählen sollen. Wie kann Vyssoki ihnen helfen?
Wer sich in einer akuten psychischen Krise befindet, kann sich an Esra wenden. Das Zentrum ist telefonisch erreichbar unter +4312149014.
Wer sich in einer akuten Traumasituation befinde, kippe psychisch in einen Überlebensmodus, sagt der Experte im Gespräch mit dem KURIER. „Die Menschen beschreiben es, als wären sie in Watte gepackt.“ Verzweiflung, Angst, dann teilweise Hoffnung und wieder Angst überkommen sie. „Und einer der belastendsten Faktoren ist das Nichtwissen.“
Denn viele der Menschen, die bei der Esra-Hotline anrufen, wissen nicht, wo ihre Angehörigen sind. Ob sie als Geiseln genommen, getötet, verletzt oder vergewaltigt wurden. „In dieser Phase wird man nur von Ängsten überrollt. Es fällt schwer, auch nur an morgen zu denken.“ Viele Menschen leiden infolge unter Angstzuständen, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten.
Andere Menschen in der Gemeinde seien bereits in Trauer, weil sie wüssten, dass ihre Angehörigen oder Freunde getötet wurden, so der Psychiater. Dies zu verarbeiten, sei ein langer Prozess.
Aus der Forschung weiß man, dass besonders dramatische Ereignisse auch als Traumata von einer Generation auf die nächste übertragen werden können. Man spricht dann von transgenerationaler Traumatisierung: „Alle Studien zeigen, dass es auch in der zweiten Generation eine erhöhte Prävalenz von psychischen Erkrankungen gibt.“ In der dritten Generation, also bei den Enkelkindern der traumatisierten Menschen, „ist das transgenerationale Trauma ein Hintergrundrauschen.“ Auch sie sind noch betroffen, aber weniger durch konkrete klinische Anzeichen. „Bei einer neuerlichen Traumatisierung hat das aber sehr wohl einen negativen Effekt.“
Die Menschen, die Vyssokis Team in dieser Woche kontaktieren, befinden sich noch in der ersten Phase, der akuten Krise. Für sie sei Stabilität besonders wichtig, sagt der Experte. „Es geht noch nicht darum, Zukunftsperspektiven zu erarbeiten, sondern darum, physisch präsent zu sein, also dem Gegenüber zu zeigen, dass man da ist, dass er alle Ängste und Sorgen aussprechen kann. Und dass man schrittweise in ein Gespräch kommt, damit sich der Patient oder die Patientin sicher fühlt. Erst wenn diese Phase der Stabilisierung erreicht ist, ist es möglich, Perspektiven zu erarbeiten.“
Stabilität schafft man zum Beispiel über Alltagsroutinen, so Vyssoki. „Auch wenn die Verzweiflung zurückkommt: Wenn man äußere Stabilität hat, schafft man es auch, innerlich wieder eine Spur Ordnung zu bekommen.“ In einer engmaschigen Gesprächstherapie mit Psychotherapeuten oder Psychologinnen kann dann zum Beispiel der Verlust eines geliebten Menschen aufgearbeitet werden.
Die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) lädt am Mittwochabend zu einer Gedenkveranstaltung auf den Wiener Ballhausplatz ein. Unter dem Motto "#standwithisrael" wolle man der im Zuge des Hamas-Terrors Ermordeten gedenken und für die rasche und vollständige Genesung der Verletzten sowie die sichere Rückkehr der Verschleppten beten
Start ist um 18.30 Uhr am Ballhausplatz in Wien.
Ein weiteres Thema ist auch die subjektive Sicherheit. Viele Menschen, die sich aktuell an Esra wenden, bleiben aus Angst zuhause. „Sie sind zu Hause total aufgelöst, manchmal alleinerziehend mit den Kindern und haben zu viel Angst davor, was passieren könnte, wenn sie auf die Straße gehen.“ Vyssokis Team besucht sie dann zu Hause „und hilft, dieses Gefühl von Sicherheit wiederherzustellen“.
Wie spricht man mit Kindern über den Krieg?
Viele Eltern fragen das Esra-Team auch, wie sie ihren Kindern vom Krieg, von den getöteten Verwandten in Israel erzählen sollen. „Kinder haben sehr feine Antennen“, erklärt Vyssoki dann. Sie spüren die Ängste und die Verzweiflung der anderen. Deshalb sollten Eltern ihre Kinder altersgerecht einbeziehen. „Unsere Empfehlung ist immer, sich beim Kind zu erkundigen, was es bereits über die Situation weiß.“ Viele Eltern seien überrascht, wie gut informiert die Kinder schon sind. „Dann muss man fragen, wie es dem Kind mit der Situation geht.“ Welche Sorgen, Unsicherheiten, Fragen gibt es? „Hier ist es ganz wichtig, die Gefühle der Kinder ernst zu nehmen und nicht zu bagatellisieren.“
Oft sind mehrere Gespräche nötig – auch über Sicherheit. „Viele – vor allem jüngere Kinder – wissen zwar: In Israel ist Krieg. Aber sie fragen sich: Was bedeutet das für mich? Bin ich in Wien auch bedroht? Diese Ängste kann man den Kindern gut nehmen.“
Bewusst Social-Media-Pausen einlegen
Bei den Bildern und Videos, die Kinder in (sozialen) Medien sehen, müssen Eltern besonders wachsam sein. Diese können verstörend wirken und psychisch zusätzlich belasten. Für Erwachsene sei es wichtig, bewusst Pausen vom Medienkonsum einzulegen. „Es ist nachvollziehbar, dass man, gerade wenn Familienangehörige vermisst werden, nicht aufhören kann in den sozialen Medien zu recherchieren“, so Vyssoki. „Aber man wird dort mit so vielen menschlichen Tragödien und Kriegsverbrechen konfrontiert, dass das auch Menschen, die vorher nicht psychisch belastet waren, wirklich aus dem Gleichgewicht bringen kann. Erst recht natürlich Menschen, die bereits psychisch belastet sind.“
Ob Vyssoki in diesen dunklen Momenten auch kleine Lichtblicke erkennen kann? Der Arzt zögert. „Das sind wirklich sehr schwere Stunden für viele Menschen hier in Wien. Was Halt und Sicherheit gibt ist die Gemeinschaft, die Unterstützung untereinander. Sei es in der Familie, im Freundeskreis oder in der Synagoge. Schulter an Schulter. Hand in Hand.“
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