Guantánamo-Häfling: "Es ist meine Pflicht, darüber zu reden"
Einen doppelten Espresso bestellt Mansoor Adayfi in einem Café im 7. Wiener Gemeindebezirk und fragt die Kellnerin dann, ob sie auch Brownies hätten.
"Die haben wir immer dann bekommen, wenn Medien Zutritt zu Guantánamo erhalten haben. So wollten die Verantwortlichen des Gefangenenlagers vorgaukeln, dass es uns dort gut gehen würde", erzählt Adayfi. Solche Besuche waren zwar selten, aber trotzdem etablierte sich bei ihm der Konnex zwischen Medien und Brownies.
Auch im Gespräch mit dem KURIER will er zeigen, dass es ihm gut geht. Trotz aller Entmenschlichung, trotz der körperlichen und mentalen Folter, die er 14 Jahre lang als unschuldiger Häftling in Guantánamo erleben musste, ist er ein Mensch geblieben, der einen Espresso genießen und lachen kann.
Fünf Jahre lang kein Lebenszeichen
Der im Jemen geborene Mansoor Adayfi befand sich in Afghanistan, als er Ende 2001 gefangen genommen und zu einem geheimen Gefängnis – black site – gebracht wurde. Laut eigenen Angaben war der damals 18-Jährige als wissenschaftlicher Assistent im Auftrag eines jemenitischen Instituts in Afghanistan unterwegs. "Wir sollten Informationen und Material für ein Buch über die Taliban sammeln und Leute interviewen. Damals war es in Mode, über die Taliban zu schreiben", so Adayfi.
Drei Tage nach ihrem Aufenthalt in Afghanistan wurde Mansoors Gruppe aufgefordert, das Land zu verlassen, doch sie gerieten in einen Hinterhalt afghanischer Warlords, die sie angeblich an die Amerikaner verkauft hatten. Damals, so Adayfi, sei es zu einer Verwechslung gekommen – das US-Militär habe ihn für einen ägyptischen Al-Qaida-Kämpfer gehalten. Drei Monate lang wurde er in Afghanistan gefoltert, bevor er im Februar 2002 nach Guantánamo Bay gebracht wurde, einem Marinestützpunkt auf Kuba, auf dem die US-Regierung vier Monate nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ein Gefangenenlager eingerichtet hatte. "Die US-Behörden erzählten der Welt und uns, dass wir, die Gefangenen von Guantánamo, die schlimmsten Menschen auf dem Planeten seien. Sie redeten uns ein, dass wir nichts und niemanden hätten. Unsere Familien wussten nicht einmal, dass wir noch am Leben waren", erzählt Adayfi. Erst 2007, fünf Jahre nach seiner Verhaftung, erfuhr Adayfis Familie, dass er in Guantánamo war. Als ein jemenitischer Gefangener das Gefängnis verließ, bat Mansoor Adayfi ihn, seine Angehörigen zu kontaktieren. "Meine Mutter schickte mir daraufhin einen Brief, den ich nur lesen durfte, wenn ich mich kooperativ zeigte“, erinnert sich Adayfi zurück – ein Druckmittel, um Informationen von den Gefangenen zu bekommen.
Im Gefängnis wurde er zu Nummer 441, die Befehle zu befolgen hatte, nicht beten, nicht sprechen, nicht fühlen durfte. "Sie haben mich meiner Identität und meine Werte beraubt“, sagt Mansoor. Er senkt den Blick auf seine Tasse und holt tief Luft, bevor er das Gespräch fortsetzt.
Der Kampf gegen den Folter-Terror
Da die Anstalt nicht auf US-amerikanischem Boden liegt, gelten hier nicht die gleichen verfassungsmäßigen Rechte wie in den USA. Gerade nach den Anschlägen wurde dieses Argument genutzt, um Verdächtige ohne ordentliches Gerichtsverfahren festzuhalten und zu verhören. 779 muslimische Männer waren hier inhaftiert, 30 von ihnen befinden sich noch immer in Haft. Für diese Männer begann die Hölle. Adayfi erinnert sich mit Schauder daran, dass er nackt in einer kalten Zelle ausharren musste oder, dass er in einem völlig abgedunkelten Raum isoliert wurde. Demütigungen waren Alltag im Gefangenenlager, ebenso sehr aggressive Folter- und Verhörtechniken wie "Waterboarding", bei dem Ertränken simuliert wird. Der Gefangene wird dabei auf dem Rücken gelegt, woraufhin man ihm ein Tuch aufs Gesicht legt und dann Wasser über dessen Mund und Nase gießt. Das ruft einen äußerst schmerzhaften Würgreflex hervor, der sogar zu Lungenschäden führen kann.
"Wir Häftlinge protestierten gegen diesen unmenschlichen Umgang mit uns. Als man auf unsere Worte nicht hören wollte, begannen wir mit Hungerstreiks, um die Folter und Misshandlungen zu stoppen", so Adayfi. Eine Form des Widerstands sei notwendig gewesen, um zu überleben. "Alles in Guantánamo diente dazu, uns zu brechen und in den Wahnsinn zu treiben", erinnert er sich. Das Schlimmste für ihn während seiner Zeit im Gefängnis waren die Nachrichten über Gefangene, die in Guantánamo gestorben waren. "Ich hatte das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben", gesteht Adayfi und unterbricht das Gespräch unter Tränen. Insgesamt starben neun Menschen in dem Gefangenenlager.
Um dem was entgegenzusetzen, begannen sich viele Häftlinge kreativ zu betätigen. Mit Apfelstielen kratzten sie Gedichte in Becher, lernten Sprachen voneinander, sangen gemeinsam, tanzen sogar. Für Adayfi stellte das Schreiben eine Form des Überlebens und zugleich Therapie dar.
Da sich die Hungerstreiks häuften, stand der 2009 frisch gewählte Präsident Obama unter Druck, das Lager etwas "humaner" zu gestalten. Die Insassen bekamen Zugang zu Bildung, Büchern und Materialien für Kunst. "Das war das goldene Zeitalter von Guantánamo", meint Adayfi. Doch um zu überleben hat es nicht nur Kunst gebraucht, sondern auch gute und engagierte Anwälte, die sich für die Häftlinge einsetzen. Und nicht zuletzt: Aktivisten, die auf die Zustände im Gefangenenlager aufmerksam machen.
Vor allem die 2003 gegründete britische NGO CAGE spielte eine wichtige Rolle. Sie veröffentlichte umfassende Berichte über die Erfahrungen der Gefangenen, darunter detaillierte Zeugenaussagen ehemaliger Häftlinge. "Das hat die US-Behörden stark unter Druck gesetzt, die Namen der Gefangenen zu veröffentlichen und die Kommunikation mit den Familien zuzulassen", berichtet Adayfi, der heute selbst als Projektkoordinatorin bei CAGE tätig ist.
- Eröffnung: Guantánamo Bay wurde am 11. Januar 2002 eröffnet. Seitdem wurden insgesamt etwa 779 Gefangene dort festgehalten.
- Aktuelle Insassen: Mit Stand Mai 2024 sind immer noch 30 Insassen in Guantánamo Bay inhaftiert.
- Verurteilungen: Von den insgesamt 779 Insassen wurden nur etwa 8 verurteilt.
- Freigelassene Insassen: Über die Jahre wurden mehr als 730 Insassen freigelassen, viele davon ohne Anklage.
- Kosten: Die jährlichen Kosten für den Betrieb von Guantánamo Bay betragen ungefähr 540 Millionen US-Dollar. Das bedeutet, dass sich aktuell die Kosten pro Insasse und Jahr auf etwa 18 Millionen US-Dollar belaufen.
- Todesfälle: Im Gefängnis Guantánamo Bay sind seit seiner Eröffnung im Jahr 2002 insgesamt neun Insassen gestorben.
Das Stigma von Guantánamo
Während viele ehemalige Häftlinge das Stigma, das mit Guantánamo verbunden wird, fürchten und über ihre Erlebnisse schweigen, spricht Mansoor Adayfi offen über seine Zeit in Haft. "Ich sehe es als meine Pflicht an, darüber zu reden, was passieren kann, wenn Folter und Missbrauch legitimiert werden", sagt er. Darum engagiert er sich bei CAGE und nutzt jede Möglichkeit und jedes Event, um Aufklärung zu betreiben.
Guantánamo endlich zu schließen reicht seiner Ansicht nach nicht aus. Das würde leicht dazu führen, dass der Gefangenenlager in Vergessenheit gerät. Das kann Adayfi nicht akzeptieren. Zumindest nicht, bis es irgendeine Form der Gerechtigkeit gibt. "Die Menschen müssen verstehen, was dort geschehen ist. Die USA müssten ihre Fehler eingestehen, sie müssen Entschädigungen zahlen und sie zur Verantwortung gezogen werden", bekräftigt Adayfi. Erst dann könnte man mit Guantánamo abschließen.
Und wie sieht Adayfis Gegenwart aus? Juli 2016 wurde er aus der Haft entlassen und nach Serbien überstellt. Warum Serbien und nicht seine Heimat Jemen? Weil die USA es nicht für richtig hielten, den Häftling in ein politisch instabiles Land zu überführen. Der Grund für die Instabilität: Eine von Saudi-Arabien gegründete und von den USA unterstützte Koalition griff 2015 die Houthi-Rebellen an, die ein Jahr zuvor den jemenitschen Präsidenten geputscht hatten.
Also stellte Adayfi stattdessen eine andere Frage: Warum Serbien? Weil er Englisch könne. Dass Englisch in Serbien keine Amtssprache ist, spielte offenkundig keine Rolle. In Belgrad wurde ihm eine Wohnung zur Verfügung gestellt, Rehabilitation, Therapie oder sonstige Unterstützung blieben jedoch aus. Er hatte dort niemanden und war wieder isoliert. Adayfi wandte sich also nochmals der Kunst zu, um nicht wahnsinnig zu werden. Und er schrieb.
2021 erschien dann sein erstes Buch mit dem Titel "Don't Forget Us Here: Lost and Found at Guantánamo." Darin schildert er seine Erlebnisse und die Bedingungen im Gefangenenlager, sowie den langen Weg zu seiner Freilassung. Wobei er sich immer wieder fragen muss, ob er denn frei ist. Zwar foltert ihn niemand und er wird nicht zwangsernährt. In die serbische Gesellschaft wurde er jedoch noch nicht aufgenommen. "Mein Leben in Serbien ist sowas wie Guantánamo 2.0", meint Adayfi. Und deshalb trägt er, so oft er kann, die Farbe Orange – in Anspielung auf den Gefangenenoverall.
Und auch die Kappe mit der Nummer 441 ist stets griffbereit.
Häftling 441.
War ihm die Zahl einst aufgezwungen worden, so hat er sie jetzt für sich vereinnahmt. Hinter dieser Zahl steckt ein Name, eine Geschichte über ungebrochenen Mut und ein Lächeln, hinter dem Lebenslust steckt. Der Brownie, ja, der ist gerechtfertigt.
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