Chinesen in Österreich: Mitten im Reich der Klischees
Es bedarf keiner detektivischen Meisterleistung, um beim Lesen des Namens ihren Lebensweg zu erahnen. Long Lin-Maurer. Konkret: Geboren in Shanghai, kam sie als 13-Jährige nach Österreich, sie ist jetzt 45, Dolmetscherin, leidenschaftliche Fremdenführerin in Wien und mit einem Burgenländer verheiratet. „Ich bin froh, dass Sie mir Fragen stellen“, sagt Lin-Maurer.
Sie weiß, dass hierzulande Leben, Einstellungen und Denken der Menschen mit chinesischen Wurzeln – geschätzte 30.000 – unter der Wahrnehmungsgrenze bleiben. Ein Dasein im Labyrinth der gängigen Klischees.
China-Lokal, Teigtaschen und ein Virus
Voreingenommenheiten, wie sie genährt wurden vom regelmäßigen Gang ins Chinarestaurant – zunächst oft als kostengünstiger Weg ins mittägliche Völlegefühl, mittlerweile als innovative Abwechslung im kulinarischen Alltag erkannt. Von medizinischen Alternativen, von bewundernd bis beängstigend wahrgenommener wirtschaftlicher Gigantomanie.
Es drängte sich der Skandal illegaler Teigtaschenproduktion ins Image der chinesischen Gesetzestreue. Und dann dieses Virus, das sich aus dem 1,42-Milliarden-Reich über die ganze Welt ergoss. „Wie ein Chinese auszusehen“, reichte in Österreich für vereinzelte Anfeindungen.
Als Veranstalter der Olympischen Winterspiele im soeben begonnenen Jahr des Tigers bleibt China in einer globalen Hauptrolle. Der Anstoß, um in Österreich lebende Chinesinnen und Chinesen nach ihrem Empfinden und Befinden, den Klischees und Vorurteilen zu befragen. Versuche, Einblicke zu erlangen:
Olympischer Stolz
Einigkeit herrscht unter den Befragten: Die politische Brille soll bei diesem Thema abgenommen werden. „Olympia ist eine Ehre für uns“, erklärt die seit 1989 in Wien lebende Komponistin Ming Wang, vergisst nicht auf den Hinweis des werbewirksamen Muskelspiels: „Eine weitere gute Gelegenheit für China, der Welt seine Machtposition und den neu erlangten Wohlstand zu demonstrieren.“
Allerdings in „Zeiten der Besonnenheit“, lobt Lin-Maurer die „bewusst schlicht gehaltene Eröffnungsfeier“.
Zhiyong Zhou, 52, betreibt im 1. Wiener Bezirk ein kleines Restaurant. Peking und Wintersport – ein unverträgliches Menü? Er selbst hat angefangen, „meist nur auf blauen Pisten“ Ski zu fahren. Und wie es der Zufall will, ist China („Olympia ist ja nicht nur Skifahren“) am vierten Wettkampftag auf Platz eins des Medaillenspiegels.
Nur eine Zwischenbilanz, die trotzdem stolz macht. Xiahou Jinxu, 32, lebt seit 2012 in Wien, als Tenor gehörte er zum Ensemble der Staatsoper. Wintersport sei in China durchaus ein Thema. „Ich schaue immer, was gerade passiert.“
Hong Zhao Sun, 69-jähriger Mediziner, glaubt gar an die Sogwirkung für den Tourismus.
Manchmal ärgert sich Gastronom Zhou über die Berichterstattung. Die heftig kritisierte Kunstschneepiste? Die sei schließlich keine chinesische Erfindung.
Unverständlich auch die Aufregung über einen Ordner, der einen Reporter aus einer als „verboten ausgewiesenen Zone“ scheucht. Er sei allgegenwärtig, „der auf China gerichtete Fingerzeig“, und ...
... Chinas Politik
„Diese Berichte fallen auch auf uns zurück. Obwohl die meisten in Österreich lebenden Chinesen ohnehin wissen, was in China so alles läuft“, sagt Long Lin-Maurer. Ja, Staatschef Xi Jinping erinnere zunehmend an Mao. „Im Aussehen und auch in seinem Führungsstil.“
Mehr Demokratie in China sei erstrebenswert, aber ein langer Prozess, wenn nicht gar ein Ding der Unmöglichkeit. Endlos ist diese Diskussion. Was die Demokratie in den Corona-Zeiten bewirke?
Zhiyong Zhou meint, in solch schwieriger Situation solle einer eine endgültige Entscheidung treffen. „Hier wird jedes Wochenende demonstriert. Eine Form von Egoismus, der auch meine Existenz bedrohen kann.“
Kein schlechtes Wort über Chinas Regierungsstil fällt wenig verwunderlich am Konfuzius-Institut am Campus der Universität Wien. Formal ist es eine Art Kulturforum der Volksrepublik China.
Mentalität
Ohne Anspruch auf allgemeine Gültigkeit münden die Gespräche in folgender Eigendefinition: Chinesen sind zurückhaltend, erkennen Teamwork als überaus hohes gesellschaftliches Gut, befolgen Regeln im Einklang mit streng hierarchischem Denken.
„Laut Konfuzius ist man dem Familienoberhaupt unterworfen. Das setzt sich auch in der Politik fort“, sagt Lin-Maurer. Man habe zu funktionieren. Individuelle Kreativität würde darunter leiden.
„Ein Student sagte mir einmal, er kommt sich vor wie ein Ziegelstein, der eingesetzt wird, wo und wann man ihn braucht.“ In Österreich erkenne man, dass auch der Mensch keine Maschine sei. „Eine Maschine darf nicht vernachlässigt werden, muss ab und zu gewartet werden.“
Chinesen vertrauen, und sie protestieren nicht, fasst Arzt Sun, seit 26 Jahren in Österreich, zusammen. „Sie haben das Gefühl, alles wird immer besser. Sie verlassen sich darauf, dass etwas gut so ist.“
Konfuzius
Die unverminderte Bedeutung von Konfuzius streicht Xiahou Jinxu hervor. Der Philosoph stammte aus seiner Heimatprovinz Shandong im Nordosten – dementsprechend präge seine Lehre dort die Menschen. Noch heute. „Die Atmosphäre ist speziell. Die Menschen sind sehr angenehm, nicht aggressiv.“
56 Nationalitäten gibt es in China, Unterschiede, die sich auch hier in ungefähr 30 chinesischen Interessensgruppen und Vereinen widerspiegeln. „Die Denkweise von einigen Landsleuten ist noch in China“, sagt Long Lin-Maurer. Ihr Vater habe vor mehr als 30 Jahren China verlassen, weil er eine „andere Erziehungsweise“ wollte.
Ergänzend erklärt Tenor Xiahou seinen persönlichen Glücksfall. Als er 16 war, erkannte ein Lehrer sein Talent. „Ich hatte eine normale Schulzeit. In China erlernen viele Kinder sehr früh und intensiv ein Instrument. Oft stehen starke Eltern dahinter. Für mich keine Kindheit, zu viel Stress.“
Fleiß und Disziplin
Fleiß und Disziplin begründet er mit der Größe des Landes. „In dieser Masse muss jeder schauen, dass er lebt und durchkommt.“ Überhaupt für die Generation seiner Eltern: „Sie waren sehr fleißig, es ging darum, Geld für die Familie zu verdienen.“ Der Hals werde nach oben hin immer dünner, findet Frau Lin-Maurer die passende chinesische Weisheit.
Mediziner Sun geht noch weiter zurück. Harte Zeiten in einer 5.000-jährigen Geschichte hätten schon immer Fleiß erfordert. Der rasante Wandel in den letzten 20 Jahre erzeuge bei den Jungen aber andere Prioritäten, sagt Xiahou und zieht beruflich bedingt einen Vergleich mit den bunten Pekingopern, die sein Großvater so liebte. Er selbst wisse damit wenig anzufangen. „Zu laut und langweilig.“
Rätsel Schrift und Sprache
„Nicht so schwer wie Sie denken“, wirbt Jiani Shi für ihre Kurse am Konfuzius-Institut. In Peking studierte sie Englisch und Literaturwissenschaft.
Jetzt bringt sie österreichischen Menschen bei, dass Radikale nicht nur in der Politik, sondern auch in der chinesischen Schrift Bedeutung hätten. Die gute Nachricht: „Die Grammatik ist einfacher als die deutsche. Zeitwörter müssen zum Beispiel nicht gebeugt werden.“
Arzt Sun: Die Schrift sei Verständigungselement aller Chinesen, enorm unterscheiden sich die regionale Sprachen.
Unzählige Dialekte können bei Lernwilligen aber zu frustvollen Reaktionen führen. Der Ehemann von Lin-Maurer beendete seine Sprach-Ambitionen.
Ente und Fledermaus
„Das ist doch nicht wahr“. Zhiyong Zhou, der gelernte Koch, bestreitet, Chinesen würden jedes Tier auf die Speisekarte nehmen. Jenes Klischee also, das sich in Österreich festgebissen hat.
Und die Sache mit den Fledermäusen? Xiahou Jinxu reagiert erheitert: „Dass man die isst, habe ich im Leben in meiner Provinz nie gehört oder gesehen.“ Und verweist wieder auf Chinas Größe und unzählige Traditionen. Übrigens gebe es in Wien sehr gute, authentische Restaurants.
Komponistin Wang setzt auf Ursprünglichkeit. Obwohl: „Die beste Peking-Ente habe ich in Taipeh gegessen.“ Sonstige kulinarische Gemeinsamkeiten? Die Vorliebe für den Kaiserschmarren. Sun bleibt bei der chinesischen Küche. Wichtiger TCM-Leitsatz: „Essen ist Medizin.“
Sichtweisen
Sopranistin Xinzi Hou wundert sich oft, wie wenig man in Österreich über ihre Heimat weiß. An der Musikuni erkundigte sich eine Professorin besorgt, ob denn ihre Familie in China schon Strom habe.
Nach ihrer Ausbildung möchte sie nach China zurückkehren. Österreich sei zwar ein Land „mit großartiger Musiktradition und sehr gut informiertem Publikum. Doch China hat punkto Musik viel aufgeholt“.
Laut Lebensplan wird Long Lin-Maurer bleiben. „Österreich gelingt es, Natur und Kultur zu verschmelzen, hat deshalb in China einen großen Stellenwert. Die meisten Chinesen wollen nicht in Österreich leben, nur weil das Sozialsystem so gut ist.“
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