Essay: Die Kunst, das Kind auf den Berg zu bringen

Kinder suchen auf dem Berg, was sie immer suchen: Spiel, Spaß, Abenteuer – der Gipfelsieg ist wurscht
Eltern fragen sich, ab wann das Kind geländegängig ist. Von Anfang an – wenn man den Ehrgeiz zu Hause lässt. Ein Essay.

Szene jüngst auf dem Berg, Kind (etwa sieben Jahre alt) sitzt stur, will nicht weiter. Vater: „Wenn du jetzt nicht weitergehst, ist die Hütte gestrichen. Dann drehen wir um.“

Kind erkennt seine Chance.

Vater erkennt, dass das Kind seine Chance erkennt: „Dann gibt es auch kein Eis.“

Kind steht widerwillig auf. In seinem Gesicht steht geschrieben: „Dieses Eis hole ich mir. Aber nächstes Mal bleiben wir unten im Tal. Dort gibt es auch Eis.“

Gleich vorweg: Wandern mit Kindern ist keine exakte Wissenschaft. Wie es Reisen mit ihnen insgesamt nicht ist. Erstens sind Kinder unterschiedlich, manche speiben zum Beispiel beim Autofahren, manche schlafen herzallerliebst. Zweitens brauchen Eltern gar nicht erst zu versuchen, sich reisetechnisch zu verbiegen (Babycluburlaub!), Kinder spüren unentspannte Mamas und Papas. Und drittens liegt die Faszination in einem Moment, den die Familie nur für sich selbst erschaffen hat. Allen Regeln zum Trotz.

Beim Wandern gilt das alles umso mehr, weil die üblichen Tricks (Eis, Zwischendurch-Spielzeug, ...) rar sind. Man ist auf sich gestellt, das ist ja das Tolle, höchstens von der Umgebung abgelenkt. Und die ist schon die wichtigste Zutat für glückliches Familienwandern: Zeit für die Kulisse und sogar zulassen, dass der ganze Wandertag schon auf der Almwiese neben dem Parkplatz endet. Es gibt so viele bunte Blumen, kleine Tiere, Bacherln und Lacken, Tannenzapfen und moosbewachsene Steine zu entdecken, zu inszenieren, zu bespielen. Wenn alle lachen, ist die Wanderung gelungen, manchmal muss man den Plan eben ändern.

Wie lang, wie weit?

Trotzdem regt sich in vielen Eltern der Ehrgeiz, das Kind an echtes Wandern heranzuführen – der Autor dieser Zeilen ist keine Ausnahme. Also gieren sie nach Regeln, wie weit und wie lang ein Kind welchen Alters zu gehen bereit sei. Die Enttäuschung: Auch das ist nicht einheitlich, sondern hängt davon ab, wie viel das Kind von Beginn an gegangen ist, ob Selbstgehen mit grausiger Zwangsmotivation serviert wurde oder durch lustvolles Ablenken („Wer ist schneller bei dem Baum“). Und natürlich vom allgemeinen Fitnesszustand. Eltern sollten ein Gefühl haben, was geht.

Die gute Nachricht: Es gibt Faustregeln.

Die wichtigste ist, dass es für Kinder keine zu kurzen Strecken gibt, aber zu fade. Und auch Kinder brauchen, sobald sie sicher gehen, die richtigen Schuhe, sprich rutschfeste Sohlen. Nichts ist auf dem Berg zermürbender als ständiges Aus- oder Zurückrutschen.

Es ist vergnüglich, sich unter Eltern bezüglich richtiger Weglänge umzuhören. Die einen rechnen: Kindesalter gleich maximale Weglänge. Das ist für den Anfang keine schlechte Regel – ein Fünfjähriger wird fünf Kilometer schaffen, eineinhalb Gehstunden sind auch eine vernünftige Dauer. Schließlich könnte zwischendurch ja ein Wasser erscheinen, in das man leidenschaftlich Steine werfen muss(!). Ab dem Schulalter kann man langsam die eineinhalbfache Strecke anstreben: Acht Jahre alt, zwölf Kilometer, vier Stunden Gehen, dazu wiederum viel Pausenzeit.

Sehr motivierte Eltern, und derer gibt es einige, sprechen von „mal 2“. Wären bei einer Zehnjährigen 20 Kilometer. Das ist in den Bergen fast ausgeschlossen.

Weil: Höhenmeter!

Durchschnittlich trainierte Erwachsene schaffen 300 bis 400 Höhenmeter pro Stunde, ohne bei der zweiten Stunde Stoßgebete abzusondern. Kindern bis acht sollte man nicht mehr als die Hälfte davon zumuten. Wobei das Gelände entscheidend ist: Zieht ein Weg stetig an, schafft man mehr, wechseln sehr steile und flache Passagen, strengt das mehr an. Übrigens: auch „versteckte“ Höhenmeter rechnen – das Rauf und Runter zwischen zwei Punkten. Wichtig ist zudem die Ausgeschlafenheit und Tagesverfassung – dazu gehört auch die Hitze. Wo sich Erwachsene oft ohne Wasser („ist grad im Rucksack, will jetzt nicht stehen bleiben“) durchquälen, brauchen Kindern wirklich regelmäßig zu trinken. Weil sie sonst ermüden.

Dass Kinder gelegentlich Belohnung, Lob und Sonnencreme im Gesicht brauchen, muss man Eltern nicht erst zu sagen – das wissen alle, also sagen wir es natürlich nicht.

Ich Esel, du Passagier

Es ist übrigens nicht verwerflich, den Spross zwischendurch zu schultern, am besten mit klaren Abmachungen („bis zu dieser Kurve da vorne“), denn wer verlässt freiwillig das Cockpit? Apropos Tragen: Es gibt gute Baby- und Kleinkindertragen (Kraxn), man achte auf breite Sitzstege und dass die Gliedmaßen nicht zu stark hängen (Durchblutung). Dennoch hat der Autor noch nicht durchschaut, warum eine fünfstündige Tragetour dem Zwerg besser gefallen sollte als zwei Wiesen-herumkugeln-Tiere-anschauen-Stunden.

Eines noch: Kinder sammeln wie überall auch beim Wandern Erfahrung. Schon bei der zweiten Tour werden sie ruhiger (anfangs laufen sie in maßloser Selbstüberschätzung wie Hirtenhunde vor und zurück). Und grinsen, während sie sagen: „Das war gar nicht anstrengend. Ich bin ein Wanderer!“

Leseempfehlung: Wanderung um den Gosaukamm mit Kind

Mehr zum Reisen mit Kind: facebook/reisenisteinkinderspiel

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