Eine neue Kulturtechnik: Warum wir streamen

Eine neue Kulturtechnik: Warum wir streamen
Computer statt Buch: Wie Netflix die Zukunft sein könnte. Und was wir von unseren Serien alles lernen können.

Es gibt die These, geneigte Leser, dass Netflix in wenigen Jahren der letzte Hafen der Vernunft im Internet sein wird.

Dieser Gedanke rührt daher, dass sich im Internet des Selbermachens (Twitter, YouTube, Facebook) die Unkultur des Wenig-Könnens-aber-viel-Meinens soweit durchgesetzt haben wird, dass wir dort über komplexe Zusammenhänge nur soviel erfahren, wie in einer durchschnittlichen Hasstirade eben Platz hat. Anders Netflix: Hier werden Jahr für Jahr Milliarden in eine hochprofessionelle Zunft außerordentlicher Geschichtenerzähler gepumpt, die sich komplexer Themen annehmen, die tatsächlich etwas über die Welt erzählen, in der wir leben. (Altmodische Menschen ohne Smartphone-induzierte Konzentrationsstörungen werden diesen Effekt noch vom guten, alten Buch kennen). Insofern: Auf der Couch liegen und sich Serien reinzuziehen ist womöglich eine der relevanteren Kulturtechniken unserer Zeit.

Coca-Cola

Wobei Netflix eine Chiffre ist, denn auf Amazon Prime Video, Sky oder andere finanzstarke Player treffen die oben getroffenen Beschreibungen in gleichem Maße zu – Netflix ist von der Markenbekanntheit her das Coca-Cola unter den Streaminganbietern.

Dass man von Fernseh-Unterhaltung etwas lernen kann, ist im deutschsprachigen Raum eine unterrepräsentierte These. Kein Wunder: Das wichtigste Genre, aus dem Serien und Reihen in Deutschland und Österreich (oft unter wechselseitiger öffentlich-rechtlicher Mithilfe) entspringen, ist der gute, alte, Fernsehkrimi. Jemand stirbt und in den folgenden 90 Minuten wird möglichst banal an jener Oberfläche gekratzt, die den breitesten Publikumszuspruch verspricht. Zugespitzt gesagt: Streaming ist das Gegenteil von ORF2. Hier wird für exklusive Zielgruppen gegraben, die auf spezielle Diamanten stehen, dort wird der Modeschmuck mit beiden Händen aus dem Fenster geworfen, nur um möglichst viele Menschen für kurze Zeit glücklich zu machen.

Allein: An der Oberfläche haben wir selten entscheidende Erkenntnisse gewinnen können, außer vielleicht jener, dass sie schön glänzt und auf Dauer ein bissl fad ist.

Was erfahren wir also im Streamingzeitalter über die Welt? Wie überall in der Unterhaltungsindustrie sehr viel über Amerika. Über das politische System etwa im berühmtesten Netflix-Blockbuster „House of Cards“, der den Aufstieg eines skrupellosen Politikerehepaares bis an die Spitze des Weißen Hauses zeigt – inklusive aller Winkelzüge mit Lobbyisten, schwerreichen Stakeholdern im In- und Ausland.

Das angespannte Verhältnis zwischen der afroamerikanischen Bevölkerung und der Polizei beleuchtete heuer sehr bedrückend und eindrucksvoll die Serie „Seven Seconds“, in der ein junger Detective versehentlich einen schwarzen Buben überfährt. Beide Seiten stehen einander unversöhnlich gegenüber. Wenn das Amerika im Jahr 2018 repräsentiert, dann viel Glück, möchte man sagen.

Maßstab „The Wire“

Für solche Projekte braucht es ein großes Maß an Recherche. Diesen Weg beschritt als erstes die HBO-Produktion „The Wire“, die von 2002 bis 2008 in fünf Staffeln anhand der Großstadt Baltimore nachvollzieht, wie alles zusammenhängt: Vom Drogendeal im Brennpunktviertel bis zur Frage, wer eigentlich Bürgermeister wird. Geschrieben hat das exzellente Epos ein Journalist: David Simon war zwölf Jahre Polizeireporter bei der „Baltimore Sun“, bevor er mit „The Wire“ sein Meisterstück vorlegte, das Maßstäbe setzte, die bis heute gelten: Akribie, Vernetzung und Aktualiät.

Zugegeben: Nicht jedem ist mit einem Einblick in den amerikanischen Alptraum geholfen, aber wer zahlt, schafft seinen Drehbuchautoren nun einmal an. Netflix und Konsorten werfen ihre Netze aber auch zunehmend im Ausland aus.

Europäische Produktionen wären etwa die große Mafiaerzählung „Suburra“, die einen Blick hinter römische Kulissen wirft, in denen Straßengangster, Politik, Investoren und Kirche ihre feinen Netze spinnen. Auch Frankreich ist bereits im Portfolio: In „Marseille“ spielt Gerard Depardieu einen Bürgermeister, der nicht nur optisch Maßlosigkeit suggeriert, sondern auch seine Macht mit allen Facetten auslebt und bewahrt.

Die konkreteste Annäherung an solche Themen lieferte die Sky-Produktion „Gomorrha“, die nach dem Aufdeckerbuch des Autors Roberto Saviano nachvollzieht, wie die Mafia eigentlich ihr Geld anlegt: In Immobilienprojekten und in der internationalen Hochfinanz. Bedrückende Umstände, packend erzählt.

Da können die „Rosenheim Cops“ nicht mithalten. Dafür machen sie viele Menschen für kurze Zeit glücklich.

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