Die Heilkraft der Sexualität

„Wir müssen aus der Fixierung auf den Höhepunkt heraus. Man kann sein Essen herunterschlingen oder den Genuss in den Momenten wiederfinden.“
Bestseller-Autorin Eva-Maria Zurhorst zeigt mit "Soul Sex" den Weg vom Performer-Sex zu Sexualität, die Nähe zulässt.

Sex ist nicht gleich Sex. Und ihn zu haben macht nicht automatisch glücklich. Gerade im Laufe langer Beziehungen verändert sich die Sexualität – das anfängliche Knistern verliert sich im Alltag. Aus Verliebtheit wird routinierte Technik. Auf diesem Weg geht allzu oft die Nähe verloren – und damit die Liebe.

Es wundert daher nicht, wenn jedes Jahr vier von zehn Ehen geschieden werden – in Wien sogar jede zweite. Allzu oft ersetzen frustrierte Partner fehlende Nähe durch Pornos, durch Seitensprünge oder durch ausgefallene Techniken. Die Leere bleibt dennoch.

"Sex soll nicht einfach nur Spannungen abbauen – es geht darum, Energie und Gefühle auszutauschen", sagt die Paar-Expertin Eva Maria Zurhorst im KURIER-Interview. Nach ihrem Bestseller Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest, kommt nun das "wichtigste Buch, das ich je geschrieben habe". In Soul Sex will sie Langzeitpaaren zeigen, wie sie die körperliche Liebe miteinander wiederentdecken und mehr Herz in ihre Sexualität bringen.

"Männer glauben oft, sie müssen gewaltig etwas machen, um die Frau anzutörnen – oft ist gerade das kontraproduktiv." Ihr Ziel ist es, den Frauen und Männern Mut zu machen, einander neu kennenzulernen.

KURIER: Frau Zurhorst, es gibt unzählige Sex-Ratgeber – was ist an Ihrem Buch anders?

Eva Maria Zurhorst: Es ist kein Sexratgeber. Denn die meisten wollen uns erklären, mit welcher Stellung oder mit welcher Punkt-Stimulation der Sex toll wird. Das ist eine fatale Reduktion von Sex auf etwas Technisches. Ich erlebe jeden Tag Paare, die sehr verunsichert sind und glauben, es läuft etwas falsch, weil sie keine Lust haben. Mein Buch richtet sich an Paare in einer langfristigen Beziehung. Wenn ich jahrelang zusammen bin, fehlt die Distanz. Ohne Distanz kein Verlangen und Begehren. Gleichzeitig sehne ich mich nach Nähe.

Langjährige Partner sollen sich distanzieren?

Es braucht einen neuen Umgang. Wenn die Nähe fehlt, wird der Sex schal. Paare brauchen Mut, das Herz wieder reinzubringen. Sexualität ist nicht körperlich, sie findet im Körper statt. Der Körper ist das Spielfeld, aber das Spiel wird von den Gefühlen gespielt, die sich im Körper ausdrücken und ihn lebendig machen. Wenn ein Paar in Routine lebt, wer wann die Kinder abholt, dann wird nur noch der Alltag zusammen verwaltet. Wie soll da abends plötzlich Sinnlichkeit und echte Nähe da sein? Wenn ich den Sex behalten oder wiederfinden möchte, muss Inventur gemacht werden.

Wie sieht diese Inventur aus?

Ich höre oft Groll und unausgesprochene Themen zwischen Partnern. Wenn ich Nähe, Vertrauen und Hingabe erleben will, dann muss ich mich auch emotional hingeben. Das heißt, Herz auf und Mund auf. Da kommen dann vielleicht Dinge raus, die jahrelang nicht ausgesprochen wurden, aber unsichtbar zwischen den beiden standen.

Zum Beispiel?

Es beginnt meist mit Kleinigkeiten. Den Frauen geht es oft zu schnell – die Männer fühlen sich abgewiesen. Das wird dann nicht ausgesprochen, führt zu Verunsicherung oder beide werden bockig. Frauen sollten verstehen, dass sie selbst oft zur Situation beigetragen haben. Wenn die Frau verschlossen ist und sich nicht mehr auf Körperlichkeit einlassen will, fühlt sich der Mann leicht abgewiesen und fühlt sich nicht gewollt – der Druck steigt.

Das Bedürfnis nach Sex ist für viele Männer aber ein Bedürfnis nach Nähe und Kontakt. So geht ein Kreislauf los: Die Frau entzieht sich, der Mann fühlt mehr Druck. Natürlich gibt es all das auch umgekehrt. Viele fühlen sich dann nach dem Sex leer, traurig, manchmal regelrecht verspannt.

Wodurch wird diese Leere nach dem Sex ausgelöst?

Das passiert, wenn Sex sportlich betrieben wird und Spannung abbauen soll. Viele Paare wollen mit Sex den ganzen Stress hinter sich lassen. Das darf man nicht unterschätzen: Sex ist nicht nur eine körperliche Verbindung – da werden Energie und Gefühle ausgetauscht. Wenn zwei gestresst zusammenkommen, dann erschöpfen sie sich mehr, als sich Gutes zu tun.

Ich wünsche mir eine zweite sexuelle Revolution, wo es nicht darum geht, nackt zu sein wie in den 68ern – es geht darum, seelisch nackt, emotional frei zu sein und Nähe zu erleben.

Wie können Paare mehr Nähe erreichen?

Die Menschen müssen lernen, sich im Alltagsumfeld zu öffnen und Nähe zuzulassen. Dann kommt die Sexualität wieder. Dafür braucht es den Geist des neugierigen Anfängers. Es hilft nicht zu glauben, man weiß eh schon alles voneinander. Frauen brauchen Mikroberührungen und der ganze Körper bekommt einen Schauer.

Männer glauben oft, sie müssen gewaltig etwas machen, um die Frau anzutörnen – oft ist gerade das kontraproduktiv. Mein Ziel ist es, den Frauen und Männern Mut zu machen, sich neu kennenzulernen.

Wie wichtig ist der Orgasmus bei dieser Annäherung?

Wir müssen aus der Fixierung auf den Höhepunkt heraus. Man kann sein Essen herunterschlingen oder den Genuss in den Momenten wiederfinden, sich der Sinnlichkeit hingeben. Sexualität hat, wenn sie nähren soll, etwas mit Loslassen, Entspannung und Hingabe zu tun. Und nicht mit Druck und und etwas erreichen müssen.

Ist unsere Sexualität heute kaputter als früher?

Sie ist nicht kaputter, es gibt nur viel mehr Möglichkeiten, Schwierigkeiten zu kompensieren. Die Sexualität ist seit Jahrtausenden eine männliche Domäne. Frauen hatten eine unbedeutende Rolle und mussten ertragen. Sie haben sich über die Sexualität der Männer erfahren, die gar nicht wissen, wie der weibliche Körper funktioniert. An jeder Ecke wird uns suggeriert, dass alles geht und möglich ist. Es braucht Mut herauszufinden, was einem guttut. Der Körper ist der Lehrer.

Welche Rolle spielt Pornografie bei Paaren?

Täglich werden 2,6 Milliarden Pornos heruntergeladen. Bilder im Kopf machen Sex leicht. Man muss sich nicht einlassen und kann Ängste weglassen. Pornos sorgen für Erregung im Körper, da kann ich mich am Herzen vorbei mogeln.

... und habe dann nur sportlichen Performer-Sex.

Wenn beide einander finden wollen, müssen sie behutsam miteinander umgehen. Das heißt, kein Fremdgehen, keine Pornos – beide müssen sich miteinander auseinandersetzen. In meinem Buch sind typische Hürden und Fallstricke aufgezeigt (siehe auch Beispiele rechts oben). Wenn es ohne Vorstellungswelten oder Verkleidungen keine sexuelle Regung gibt, ist das für ein Paar die Sackgasse schlechthin. Da ist man immer im Kopf und nicht im Herzen. Die Frau muss das Vertrauen haben, sich in ihrem Körper zu öffnen und hinzugeben – und der Mann in seinem Herzen.

Was sind die größten Herausforderungen auf diesem Weg?

Das Schwierigste ist die Sprachlosigkeit. Wir brauchen Paar-Sein – nicht als Verwaltungsteam, sondern als Wir. Das lebt von alltäglichen Berührungen: den Begrüßungskuss wirklich zu spüren. Wenn ich frisch verliebt bin, bin ich mit jeder Faser in diesem Kuss. Wenn ich 20 Jahre zusammen bin, bin ich bei den kochenden Kartoffeln. Beide müssen über eine Hürde drüber, die zuerst einmal herausfordernd scheint.

Wie überwindet man diese Hürden?

Mit der Nähe können Bereiche hochkommen, die mit Angst gekoppelt sind. Es ist wichtig, hier zu verstehen, dass man nicht falsch funktioniert. Vieles davon hängt mit verdrängten, alten Erfahrungen zusammen. Wenn ich die Zusammenhänge verstehe, dann löst sich etwas in mir. Manche Dinge sind dazu da, in der Beziehung zu heilen. In Sex steckt ganz viel Heilkraft.

Buchtipp: "Soul Sex. Die körperliche Liebe neu entdecken" von Eva-Maria Zurhorst, arkana Verlag, 19,60 €.

Im Buch „Soul Sex“ hat Eva-Maria Zurhorst mit ihrem Mann Wolfram Spielregeln definiert, an die sich beide halten müssen, wenn sie eine Basis miteinander schaffen wollen. Einige Beispiele:

Keine wechselnden Partner

Wer von Neuem aufeinander zugehen will, braucht Vertrauen als Basis. Beide sollten sich auf einen klar definierten, geschützten Raum einigen – das beinhaltet: keine Dreiecksbeziehung, kein Herumflirten, kein Bordell, keine Pornos. Hier sollte es nicht nur bei Lippenbekenntnissen bleiben.

Kein „Deal-Sex“

Sexualität darf nicht als Machtmittel missbraucht werden – sie ist nicht dazu da, Ärger zu beseitigen oder den anderen zu bestätigen.

Achtung vor der Unabhängigkeitsfalle

Sich Unabhängigkeit bewahren zu wollen ist oft das freundliche Synonym für „ich habe Schiss, mich einzulassen“, mahnt Wolfram Zurhorst. Wer unabhängig ist, geht in schwierigen Zeiten – die Herausforderung in einer Beziehung ist aber zu bleiben, wenn es schwierig wird.

Verletzlich bleiben

Um sich beim Sex emotional und körperlich öffnen zu können, ist die Voraussetzung verletzlich und ehrlich zu bleiben. Es braucht Mut, sich auf das Risiko einzulassen, ohne dabei lieblich angepasst zu sein. Zum Öffnen gehört auch, alte Geschichten nicht mehr aufzuwärmen und Feedback vom Partner nicht als Angriff zu sehen, sondern offen zuzuhören.

Widerstehen Sie den Fluchtimpulsen

Wenn es in einer Beziehung unangenehm wird, nehmen die Fluchtimpulse zu – doch wer darüber spricht, was gerade los ist, statt zu flüchten, zeigt seine Verletzlichkeit. Das ist der Punkt, an dem etwas geändert werden kann.

Stoppen Sie alles Unechte

Führen Sie Alltagsberührungen wie den Begrüßungskuss oder die Umarmung nicht aus Gewohnheit oder Pflichtgefühl aus. Beenden Sie alles Unauthentische – das macht Platz für neue, echte Nähe.

Nicht auf die große Leidenschaft warten

Viele verwechseln Verliebtheit mit Liebe. „Verliebtheit ist eine herrliche Lüge, eine Idealvorstellung vom anderen, die im Kopf stattfindet“, sagt Eva-Maria Zurhorst. „Sinnlichkeit kommt echter und näher zurück, wenn Sie sich auf körperliche Liebe einlassen, auch wenn die alte Leidenschaft nicht mehr da ist“, erklärt ihr Mann Wolfram Zurhorst. Wer neue Lust- und Liebesschübe mit einem neuen Partner sucht, hat demnach Angst sich einzulassen und verletzt zu werden.

Die Heilkraft der Sexualität
Eva-Maria Zurhorst

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