Wunschloses Unglück - Von Peter Handke

Aus Bruchstücken erschafft Handke nicht nur das Bild seiner Mutter, sondern ein bestechendes Porträt einer Frauengeneration, die vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde.

Peter Handke ist neben Elfriede Jelinek der Überlebende jenes großartigen Quartetts aus Österreich - Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard gehörten noch dazu -, das in den 1960er- und 1970er-Jahren die deutschsprachige Literatur maßgeblich beeinflusste. 2012 feiert Handke seinen siebzigsten Geburtstag und wird sich wohl auch bis dahin treu bleiben: Er provoziert, er rüttelt immer wieder an der Sprache, an der Kultur und - in der breiteren Öffentlichkeit und in den Medien am stärksten wahrgenommen - an der Politik.

Von der 1966 uraufgeführten "Publikumsbeschimpfung" bis zur 1996 losgetretenen Serbien-Kontroverse (Kritiker behaupteten, Handke verharmlose serbische Kriegsverbrechen): Immer wieder polarisierte der 1942 in Griffen geborene und seit 1990 bei Paris lebende Autor. "Wunschloses Unglück" erschien 1972, ein Jahr nach dem Selbstmord seiner Mutter. Handke gibt dem "Bedürfnis, über sie zu schreiben" nach und folgt den Fährten zurück in die Erinnerung. Wie war seine Mutter? Wer war diese Frau, die mit 51 Jahren eine Überdosis Schlaftabletten schluckt? Der Schriftsteller geht sehr behutsam vor. Immer wieder innehaltend, die eigenen Wörter reflektierend und moralische Urteile zurückdrängend, zeichnet er auf knapp 90 Seiten den Lebensweg seiner Mutter nach: Die kalte, gefrorene Atmosphäre in einem Dorf in Kärnten, der sie unterdrückende Vater, die Flucht aus dem Elternhaus mit 15 Jahren. Sie wird Köchin in einem Hotel, verliebt sich in einen verheirateten Deutschen, der Mitglied bei der NSDAP ist. Bekommt ein Kind von ihm, das Peter heißen wird, heiratet aber noch vor der Geburt einen Unteroffizier der deutschen Wehrmacht. Sie liebt ihn nicht, aber sie braucht einen Vater für ihr Kind und einen Ehemann für sich. Die Familie durchleidet den Zweiten Weltkrieg, eine Tochter kommt zur Welt, zwei weitere Kinder treibt die Mutter ab. Ihr Mann beginnt zu trinken und zu prügeln. Nach Jahren in Berlin kehren sie nach Kärnten zurück, aber die Situation ändert sich kaum. Kopfschmerzen stellen sich ein, Depressionen und ein Nervenzusammenbruch. Schließlich der Suizid.

Aus diesen und ähnlichen Bruchstücken erschafft Handke nicht nur das Bild seiner Mutter, sondern ein bestechendes Porträt einer Frauengeneration, die vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde. Mit den Handschellen ihrer Zeit gefesselt, bewegt die Mutter Handkes sich durch ihr Leben wie in einem Gefängnis. Die Sprache des Autors ist dabei souverän wie immer, aber auch sehr vorsichtig. Er klagt nicht an, jammert nicht - er beschreibt. Und es sind die unscheinbaren Sätze, die die Lektüre von "Wunschloses Unglück" so berührend machen: "Wie ihr Vater glaubte sie sich nichts mehr gönnen zu dürfen und bat doch wieder mit verschämtem Lachen die Kinder, sie an einer Süßigkeit mitlecken zu lassen."

Gleichzeitig ist die Erzählung ein Bericht über das Schreiben selbst. Handke misstraut den Worten, setzt manche okkupierte in Großbuchstaben, misstraut aber auch - gerade in dieser besonderen Nähe zum Biografischen - seinem eigenen Schreiben: "Diese zwei Gefahren - einmal das bloße Nacherzählen, dann das schmerzlose Verschwinden in poetischen Sätzen - verlangsamen das Schreiben, weil ich fürchte, mit jedem Satz aus dem Gleichgewicht zu kommen."
Aber er kam nicht aus dem Gleichgewicht, beschrieb ein Leben als wunschloses Unglück - und lässt Leserinnen und Leser betroffen zurück.
Nächste Woche: Frederick Forsyth "Der Schakal"

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