Wiener Festwochen von A bis Z: Begleitung durch den Begriffsdschungel

Die Zeiten, in denen man ein Ticket für die Wiener Festwochen kaufte, hinging, (Musik-)Theater schaute und dann einfach wieder nach Hause ging, sind ja lange vorbei. Spätestens seit Tomas Zierhofer-Kin, dem Vorvorgänger des neuen Chefs Milo Rau, sind die Festwochen terminologisch aufmunitioniert: Wer nicht schon mit allerlei -Ismen und weiteren Schlagwörtern des derzeitigen Kulturdebattenvokabulars aufgerüstet in die Vorstellung geht, mag vieles von dem versäumen, was hier gemeint ist.
Bereits in der Aufwärmrunde zur ersten Festwochen-Ausgabe Raus ging es um zwei -Ismen, den Postkolonialismus und den Antisemitismus. Hier eine Vorschau auf die Festwochen in praktischen Begriffen und Kontexten für die kommenden Debatten.
A... wie Aktivisten
Milo Rau meint mit seiner Kunst die echte Welt. „Jede Revolution beginnt mit einer extremen Erfahrung“, schrieb Rau in seinem jüngsten Buch. Damit ist durchaus auch der Besuch einer Kulturveranstaltung gemeint. Dass Raus Kunst daher aktivistisch ist und von den Gesten des Aktivismus geprägt ist, bestimmt das Programm der ersten Festwochen. Schon bei der Programmpressekonferenz verkleideten sich Rau und sein Team als vermummte Protestierende.
C ... wie (Protest-)Camp
Anderswo werden Camps geräumt, bei den Festwochen ist das Campieren sanktioniert: In Kooperation mit der Klima-Biennale ist im Wiener Volkskundemuseum ein „Aktivismuscamp“ eingerichtet, in dem sich Gruppen von Attac bis zur Letzten Generation vernetzen.
E... wie Eröffnung
Am Freitag sollen auf dem Rathausplatz nicht einfach nur Wiener Festwochen eröffnet, sondern es soll gleich eine „Freie Republik Wien“ ausgerufen werden. Die ist das zentrale politische Anliegen Raus – soweit die Kunst hier real gemeint ist. Unter anderem Fuzzman, Pussy Riot, Voodoo Jürgens und Gustav treten auf, das Personal der Festwochen-Aktivisten setzt Statements ab, ein Chor singt die neue Hymne „Steht auf steht auf“. Laut Hausordnung ist das Mitbringen von „politischem Propagandamaterial“ übrigens verboten.
G... wie Genossin Die Kunsthalle Wien richtet unter dem Titel „Genossin Sonne“ von 16. 5. bis 1. 9. eine Gruppenausstellung in Kooperation mit den Festwochen aus. Auch hier geht es ums politische Potenzial: „Gibt es etwa, wie die sowjetischen Kosmisten behaupteten, einen Zusammenhang zwischen erhöhter solarer Aktivität (einer Zunahme der Sonnenflecken und -winde) und irdischen Revolutionen?“, fragt der Ankündigungstext.
H ... wie Heuchelei
„Legt die Kunst die Finger in Wunden oder ist sie nur die schicke Heuchelei der Saturierten?“: Die Frage soll von 14. bis 16. Juni in der Reihe „Wiener Prozesse“ ergründet werden, es geht um Grenzen des Aktivismus und der Kunst. Am letzten Abend soll ein Urteil verkündet werden.
K ... wie Kolonialismus
Den muss man immer mitdenken, und zwar in jeder Form: Rau will die bis heute sichtbaren Verwundungen und Folgeschäden der europäischen Beutefeldzüge und einstigen Herrschaft in allen Teilen der Welt vor den Vorhang holen. Dabei geht es auch viel um heutige Macht – wer sprechen darf, welche Sichtweisen gültig sind. Und natürlich um den Kapitalismus, der so etwas wie der Nachfolger des Kolonialismus sei. Der ist für Rau immer böse. Daraus schält Rau auch viele Kontexte seiner Provokationsunternehmungen, indem er Herrschaftsdiskurse (Westen/Süden, Mehrheit/Minderheit) umdreht.
P ... wie Programmbuch
Hat 208 Seiten – und liegt damit, gemessen an den Programmbüchern von Tangente St. Pölten (416 Seiten), Kulturhauptstadt Bad Ischl (317), Volkstheater Wien (87) und Donaufestival (58) noch eher in der unteren Hälfte des Kulturfestival-Mitteilungsbedürfnisses.

Milo Rau inszeniert "La Clemenza di Tito"
R... wie radikal
Das will das Programm der Festwochen sein, und zwar egal wo. Da werden gleichermaßen Mozart „radikal dekonstruiert“ als auch „gängige Denkweisen radikal infrage gestellt“. Ein zentrales Bewertungskriterium der heurigen Festwochen wird sein, was von dieser Radikalitätsbehauptung am Schluss übrig bleiben wird.
S ... wie schief
Das ist der gesamte Text auf der Webseite der Festwochen.
T ... wie Theater
Ja, das gibt es bei den Festwochen auch. Programmhighlights siehe hier:
Ein musikalisches Manifest eines russischen Dissidenten, ein vom Chef persönlich „radikal dekonstruierter“ Mozart, eine Anklage gegen die Ausbeutung des Planeten durch die sogenannte „Fast Fashion“: Im Programm der Wiener Festwochen hat jeder Eintrag ein Anliegen, das über das Gezeigte hinausgeht.
So treten etwa bei Milo Raus Dekonstruktion von Mozarts „La Clemenza di Tito“ 18 Wienerinnen und Wiener auf, die Erfahrungen mit repressiven Systemen gemacht haben. Bei Caroline Guiela Nguyens „Lacrima“ wiederum wird anhand der Modeindustrie einer Spur der Ausbeutung auf dem Planeten verfolgt.
Und die Performerin Carolina Bianchi arbeitet bei ihrem Projekt „Die Braut und Goodnight Cinderella“ damit, dass sie selbst K.O.-Tropfen nimmt und sich ihren Mitstreitenden gleichsam ausliefert.
Die Festwochen sollen sich mit diesem durchpolitisierten Programm weiterentwickeln, hieß es bei der Kür Raus. Sie wollen nun jene Fragen an die Gesellschaft stellen, die vor allem die Kunstbranche selbst dort beschäftigen, wo sie sich als von den heutigen Herausforderungen informiert versteht.
Oder einfacher gesagt: Die Festwochen werden nun auf jenes Spielfeld gestellt, auf dem sonst NGOs agieren und Jungakademiker die Welterklärung versuchen.
Geübt im Dagegenhalten dort, wo es wirklich zählt, ist der russische Exilregisseur Kirill Serebrennikov, der ab 19. Mai im Burgtheater mit „Barocco“ die Freiheit beschwört. Die Freiheit von Geschlechterbildern hat Kim de l’Horizon in seinem „Blutbuch“ auf bereichernde Art beschrieben; das Buch kommt nun als „Blutstück“ auf die Bühne des Volkstheaters (ab 18. Mai) – mit Kim de l’Horizon selbst.
Der Ungar Kornél Mundruczó hält wiederum im Diskurs dagegen: Er thematisiert in der Familiengeschichte „Parallax“ (ab 27. Mai im Museumsquartier) Fragen zu Jüdischsein und Queerness, die in Ungarn vielleicht nicht eben im Zentrum der Debatte stehen.
Das zweite Werk, das Rau bei den Festwochen inszeniert, ist „Medea's Kinderen“ am Steinhof, wo ab 31. Mai die antike Tragödie aus Sicht der Kinder erzählt wird.
V ... wie Verfassung
Eine neue Verfassung soll am Ende der ersten „Festwochen“-Ausgabe von Milo Rau stehen. Und zwar für die „Freie Republik Wien“.
W... wie woke
Das will Milo Rau jedenfalls nicht sein – denn die fruchtlosen Streits um Wörter und Identitäten der „Woken“ behindern das, was er für wichtig hält, nämlich die Umsetzung einer neuen Utopie.
Z ... wie Zweite Moderne
Das soll letztendlich herauskommen: Die Erzählungen der ersten Moderne (mitgemeint: der europäischen Moderne) sollen hinterfragt und neu gedeutet werden. Die neue Moderne soll „weiblich und vielgestaltig, entgrenzt und grenzenlos“ sein.
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