Und ja, es geht schon um Gewalt, aber nicht dominant: Caroline Guiela Nguyen, seit September 2023 Leiterin des Théâtre National de Strasbourg (TNS), erzählt eine Geschichte darüber, wie man sich derart in ein Projekt hineinsteigern kann, sich ihm förmlich ausliefert, dass alles andere – das persönliche Umfeld, die eigene Gesundheit – völlig nebensächlich wird. „Lacrima“ ist in erster Linie eine Geschichte über Obsession, Ehrgeiz und die Sucht, etwas Schönes zu schaffen.
In „Die Lehre der Sainte-Victoire“ (1980) von Peter Handke berichtet eine Weggefährtin des Erzählers, dass ihr der Mantel der Mäntel vorgeschwebt, beim Schneidern aber nur Stückwerk gelungen sei. In „Lacrima“ ist der Ansatz der Gleiche. Die Geschichte spielt in der nahen Zukunft: Am 6. Juni 2025 werde die königliche Hochzeit stattfinden – und die britische Prinzessin wünsche sich ein alles überstrahlendes Kleid. Acht Monate seien ab Oktober Zeit. Und nun tigern sich alle euphorisiert hinein.
Sticken und besticken
Dieses Kleid besteht, wie man alsbald erfährt, aus drei Teilen: einem Körper, der in einer Haute-Couture-Werkstatt in Paris geschneidert wird; aus einer Schleppe, die man in Mumbai mit 250.000 Perlen bestickt; und einem Schleier, den man im Victoria and Albert Museum von London wiedergefunden hat: Er war einst in der königlichen Spitzenmanufaktur von Alençon in der Normandie gestickt worden – und muss nun ebendort restauriert werden.
Alle Fäden laufen bei Marion zusammen. Sie leitet das Maison Beliana in Paris und steht unter enormen Druck – etwa durch den Designer Alexander, der die große Karriere vor Augen hat. Es herrscht zudem strengste Geheimhaltungspflicht; und das Königshaus verlangt die Einhaltung arbeitsrechtlicher wie ethischer Standards. Da spießt es sich bald einmal. Auch deshalb, weil die Zeit davonläuft.
Caroline Guiela Nguyen, Jahrgang 1981, erzählt all dies raffiniert wie leichtfüßig. Schauplatz ist zumeist die Pariser Werkstatt; kommuniziert wird per Video-Call.
Eingebettet sind auch digitale Präsentationen – und was wo zu welcher Uhrzeit passiert: Man sieht auf dem Bildschirm über der Cinemascope-Szenerie (von Alice Duchange) Close-ups vom Handarbeiten. En passant erfährt man Unglaubliches über das Spitzensticken, das tatsächlich atemberaubend war: Die Frauen, oft gehörlos (und daher selbst bei Krieg nicht aus der Ruhe zu bringen), unterdrückten das Atmen, um die Nadel perfekt zu setzen. Das hatte enorme gesundheitliche Auswirkungen. Darüber berichten drei alte Damen, die das Restaurieren übernommen haben, in einem Interview fürs Radio. Und eine dieser Stickerinnen wird nebenbei mit ihrer eigenen, völlig verdrängten Familiengeschichte konfrontiert.
In Mumbai hockt Abdul währenddessen ununterbrochen mit gekrümmtem Rücken über der Schleppe. Er reagiert nicht auf die Anrufe der Tochter, überweist ihr nur Geld. Weil die Untersuchung ergeben hat, dass sein Sehnerv geschädigt ist, wird er nach 1.800 Stunden vom Projekt abgezogen – 50 Arbeitsstunden vor der Fertigstellung seines Meisterwerks. Welche Tragik: Er verliert sein Augenlicht trotzdem.
Und dann verzieht sich noch die mit 20 Kilogramm Perlmutt bestickte Seide. Der indische Partner hatte eindringlich gewarnt – und leichtere Plastikperlen vorgeschlagen. Doch die Prinzessin bestand auf echtem Material.
Nun steht quasi die Notoperation an: Marion riskiert mit Wasserdampf alles. Zu allem Überdruss hat sich nicht nur ihre Tochter abgewandt: Der eifersüchtige Ehemann tickt aus und wird gewalttätig. Auch die Warnhinweise der Ärztin und den Ratschlag zu atmen negiert Marion. Ob das noch gut gehen kann?
Jubel, Standing Ovations.
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