Wie man auf Arabisch malt: Große Werkschau von Etel Adnan in München
Entwurzelung: Jemand, der diese Erfahrung selbst nicht machen musste, kann allenfalls nachspüren, wie sich die Optionen in einem Leben ändern, das plötzlich keinen Ort mehr hat. Manchmal spinnen Worte ein Sicherheitsnetz: Sie werden zu mehr als bloßen Bedeutungsträgern, ändern ihre Form, fahren Tentakel aus, verweben sich auf neuartige Weise. Dinge und Erinnerungen gehen andere Beziehungen ein, und eine imaginierte Welt erscheint realer, greifbarer und reicher an Handlungsmöglichkeiten.
Sturm und Anker
All diese Aspekte finden sich im Werk der Künstlerin Etel Adnan, die im Vorjahr, am 14. November 2021, im Alter von 96 Jahren in Paris verstarb. Schon als sie 1925 in Beirut zur Welt kam, hatte ihre Familie ihre Welt verloren: Der Vater, ein Syrer, hatte in der Armee des Osmanischen Reiches gedient und nach dessen Zusammenbruch seinen Status verloren. Die Mutter, eine Griechin, hatte ihn in Smyrna (heute Izmir, Türkei) kennengelernt und erlebte den Libanon als fremdes Territorium.
In der Ausstellung im Münchner Lenbachhaus, die erstmals Adnans Kunst umfassend im deutschsprachigen Raum vorstellt, wird all das in Form mithilfe eines Dokumentarfilms und präziser Wandtexte erzählt.
Doch es ist das bildnerische Schaffen, das im Fokus der atmosphärisch einnehmenden Retrospektive steht: Von Zeichnungen auf gefalteten Leporellos, auf denen sich Markierungen nach und nach von ihrer Bestimmung als Schrift und Kalligrafie lösen, erstreckt es sich über farbstarke, kleinformatige Gemälde bis zu großen Teppichen.
Letztere hatte Adnan schon seit den 1960er-Jahren ersonnen, doch viele Entwürfe wurden erst nach 2012 ausgeführt: In jenem Jahr zeigte die documenta 13 in Kassel Adnans Bilder an prominenter Stelle und veranlasste so ihre späte „Entdeckung“ in der Kunstwelt.
Das Lenbachhaus fügt der Wahrnehmung Adnans als bildender Künstlerin nun noch eine neue Kontextualisierung hinzu: Ist das Haus doch für seine Sammlung von Werken der Gruppe „Blauer Reiter“ berühmt, die um 1910 neue Wege des Ausdrucks und der Abstraktion suchte.
Exemplarisch sind also Werke von Paul Klee, Wassily Kandinsky und Gabriele Münter zwischen Adnans Bilder gehängt, die Verbindung wird rasch deutlich. Hier wie da ergibt sich durch die Aneinanderfügung von Elementen – Worten, Farben, Flächen – etwas, das mehr ist als die Summe der Teile und über die bloße Darstellung hinausweist: etwas wie Poesie.
Dichtung und Krieg
Von der Biografie und der Politik war Adnans Schaffen freilich nie zu trennen. Zur Malerei fand sie erst 1960, unter dem Eindruck des Algerienkrieges. Als Intellektuelle, die in Beirut in eine französische Schule gegangen war, ab 1949 an der Pariser Sorbonne Philosophie studiert und ab 1955 in den USA unterrichtet hatte, sah sich Adnan als Teil der arabischen Welt – dass sie als solcher dort teils nicht akzeptiert wurde, weil sie nicht auf Arabisch schrieb, kränkte sie. Malerei wurde zu einem Ausdrucksmedium jenseits der Worte: „Ich musste nicht mehr auf Französisch schreiben, ich malte einfach auf Arabisch“, sagte sie dem Kurator Hans-Ulrich Obrist, der zahlreiche Interviews mit ihr führte (und im Übrigen der österreichischen Dichterin Friederike Mayröcker, deren Umgang mit Text und Bild in mancher Hinsicht verwandt scheint, ähnliche Bewunderung entgegenbrachte).
Zu einer literarischen Stimme des arabischen Raums wurde Adnan schlussendlich doch – durch Gedichtbände, Essays und den Roman „Sitt-Marie Rose“ (1978). Er brachte ihr Morddrohungen ein und zwang sie, den Libanon, wo sie ab 1972 als Kulturjournalistin gearbeitet hatte, zu verlassen.
Daheim am Berg
Der nächste Ankerpunkt in der Biografie sollte – erneut – Kalifornien werden, konkret der Ort Sausalito bei San Francisco. Dort konnte Adnan aus jedem Fenster den Mount Tamalpais sehen – jenen Berg, zu dem sie eine so intensive Beziehung unterhielt, wie sie die Kunstgeschichte sonst nur von Paul Cézanne und seinem Hausberg Montagne Sainte-Victoire kennt.
Adnan malte aber weniger den Berg selbst als einen Dialog mit ihm: Ihre Gemälde sind in Farbe gefasste Meditationen über das Verhältnis von Mensch und Natur und die Frage, was essenziell ist.
Es braucht vielleicht die in dieser Ausstellung ermöglichte Dichte an Werken, um diesen Prozess über das einzelne Bild hinaus zu erspüren. Doch am Ende hat man das Gefühl, dass die Kunst auch in schwierigsten Lagen Möglichkeiten bietet, Halt zu finden.
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