Den Schritt von der Schauspielerin und Muse hin zur Filmemacherin vollzog Seyrig im Jahr 1974, als sie gemeinsam mit Carole Roussopoulos und Ioana Wieder das radikale Videokollektiv „Widerständige Musen“ gründete. Sony hatte Ende der 60er Jahre die Videokamera auf den Markt gebracht; die leicht tragbare „Portapak“ bot den Aktivistinnen eine niederschwellige Gelegenheit, zur Kamera zu greifen und sie strategisch für politische Anliegen aktivistisch zu nutzen.
Dass sich Gesellschaftskritik und Humor keineswegs ausschlossen, beweist ein Video mit dem Titel „Maso und Miso fahren Boot“ (1976). Die „Widerständigen Musen“ machen sich darin gekonnt über eine Fernsehsendung lustig, in der sich die französische Staatssekretärin zu Sätzen wie „Frauen mögen Frauenfeinde“ hinreißen lässt.
Treffsichere Videos wie diese finden sich in der materialprallen und absolut sehenswerten Ausstellung „Widerständige Musen. Delphine Seyrig und die feministischen Videokollektive im Frankreich der 1970er und 1980er Jahre“ in der Kunsthalle Wien. An die 200 Ausstellungsstücke, die nicht nur Filme und TV-Ausschnitte, sondern auch Briefe, Poster und Originalkostüme versammeln (etwa aus Delphine Seyrigs Zusammenarbeit mit der Filmemacherin Ulrike Ottinger), machen eine Zeit des politischen Aufbruchs und des zivilen Ungehorsams lebendig.
Die Ausstellung gliedert sich in sechs Kapitel, die sich an den Interessen und Aktivitäten von Seyrig und den „Widerständigen Musen“ orientieren und von dort aus ihre weiten Kreise ziehen. In thematisch konzentriert angeordneten Videoinseln können sich die Besucher und Besucherinnen in radikale Diskussionen und Protestbewegungen hineinziehen lassen, die über Europa hinausgehen und sich mit dem Vietnam-Krieg ebenso beschäftigen wie mit horriblen Folterpraktiken in Lateinamerika.
Zu einer der einprägsamsten Arbeiten zählt Delphine Seyrigs Video „Sei schön und halt die Klappe!“ von 1976. Seyrig interviewte 24 Schauspielerinnen in Frankreich und den USA und lässt sie über ihre Erfahrungen in der Filmindustrie erzählen. Jane Fonda berichtet, dass sie zehn Jahre lang falsche Brüste trug und Hollywood ihr nahelegte, sich den Kiefer brechen zu lassen, damit ihre Wangen hohler wirken.
Die 23-jährige Maria Schneider, der der Schrecken von der missbräuchlichen Zusammenarbeit mit Bernardo Bertolucci und Marlon Brando zu „Der letzte Tango in Paris“ noch immer ins Gesicht geschrieben steht, erzählt, dass sie nur Parts als Verrückte oder Mörderin angeboten bekommt. Schauspielerinnen berichten von endlos langweiligen Nebenrollen als Ehefrauen. Und an erfolgreiche Frauen über 50 im Filmgeschäft kann sich kaum eine erinnern. Die Ausstellung verzichtet übrigens darauf, direkt auf #MeToo hinzuweisen. Doch das ist auch nicht notwendig: Die Aktualität von „Widerständige Musen“ ist einfach unübersehbar.
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