Säuberungen
Ein solches jedoch gibt es für die damals Mitwirkenden nur teilweise. Mehr und mehr übernehmen die Nazis auch im Haus am Gürtel das Kommando. Juden werden sukzessive entfernt, müssen fliehen oder werden in Konzentrationslager deportiert, wo sie letztlich ermordet werden. Ein Faktum, das NS-Schergen aber nicht daran hindert, vor dem Todesmarsch noch um ein Autogramm zu bitten. . .
Es sind Szenen wie diese, die bei der Uraufführung von „Lass uns die Welt vergessen“ besonders unter die Haut gehen. Denn der niederländische Regisseur und Autor Theu Boermans hat tatsächlich ein auf Fakten basierendes „Stück mit Musik“ (die Betonung liegt mehr auf Stück) geschaffen, das die damaligen Ereignisse reflektiert.
Wer reagiert wie – das ist die zentrale Frage in diesem mit dreieinhalb Stunden (inklusive Pause) etwas langatmigen Werk. Da wäre etwa der Regisseur Kurt Hesky (Jakob Semotan), der sich in einen gnadenlosen Eskapismus flüchtet, denn „in vier Wochen ist Premiere“.
Schicksale
Der Librettist Fritz Löhner-Beda (Carsten Süss) – er wird von den Nazis später ermordet – sieht die Lage kritischer. Intendant Alexander Kowalewski (Marco Di Sapia) versucht, „sein“ Ensemble zusammenzuhalten. Der Dirigent Kurt Herbert Adler (Lukas Watzl) wird flüchten und in San Francisco Erfolge feiern. Und eine Sopranistin namens Hulda Gerin (Johanna Arrouas) wird nach dem NS-Terror eine Weltkarriere unter dem Namen Hilde Güden starten. Hugo Wiener (Florian Carove) emigriert nach Kolumbien, Fritz Imhoff wird im Nachkriegsdeutschland Erfolge feiern. Viele andere aber gehen in den Tod.
Ihre so divergierenden Schicksale setzt Theu Boermans im kargen Bühnenbild von Bernhard Hammer, dafür aber mit sehr vielen Originalvideos in Szene. Man sieht in Schwarz-Weiß etwa Schuschnigg, den Einmarsch der Nazis, Adolf Hitler und ausgemergelte KZ-Insassen.
Das hat mit Operettenseligkeit so gar nichts zu tun, ist aber immens stark. Weitaus mehr, als die gefühlt endlosen Diskussionen am Regie-Pult, wie man der neuen Situation umgehen soll. In diesen Momenten zieht sich die Vergangenheitsaufarbeitung – als Inspiration und somit quasi als Vorlage diente das sehr lesenswerte Buch „Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt!“ von Marie-Theres Arnbom – mitunter ein wenig.
Schaulaufen
Im Spiel im Spiel – also während der Proben zu „Gruß und Kuss aus der Wachau“ – findet hingegen ein anfangs betont kitschiges Schaulaufen statt. Jorine van Beek hat dazu die passenden „operettigen“ Kostüme geschaffen, die gleichfalls bewusst kitschige Choreografie stammt von Florian Hurler. Doch aus Trachten werden bald SA-Uniformen, und auch die tänzerische Walzerseligkeit kippt in einen famosen Totentanz. Souffleur Ossip Rosental (Andreas Patton gibt diese fiktive Figur) ahnt Böses, wie ein trauriger, alter Frosch aus der „Fledermaus“ von Johann Strauß kommentiert ein Bühnenmeister (Gerhard Ernst) das herannahende Grauen.
Und fast eine Kommentarfunktion hat auch die Musik. Denn die israelische Komponistin und Dirigentin Keren Kagarlitsky hat nicht nur die vorhandenen Fragmente der Originaloperette rekonstruiert, sondern diese mit Musik von Gustav Mahler, Arnold Schönberg oder Viktor Ullmann verwoben. Auch eigene Stücke sind da zu hören. Das alles ergibt eine feinsinnig gesponnene Collage, die Keren Kagarlitsky am Pult des exzellenten Orchesters entsprechend auslotet. Auch das übrige, große Ensemble (u. a.: Ben Connor, Nicolaus Hagg, Ulrike Steinsky, Karl-Michael Ebner oder Kurt Schreibmayer) fügt sich bestens ein.
Fazit: Ein starkes Lebenszeichen der Wiener Volksoper zum Jubiläum.
Kommentare