Leben in Russland: Eine Groteske

Vladimir Sorokin, Russlands bekanntester zeitgenössischer Autor, im Gespräch über Macht und Zensur

Vor 20 Jahren lebte Vladimir Sorokin ein Jahr in Berlin. Er spricht heute noch passabel Deutsch. Beim KURIER-Interview war dennoch eine Dolmetscherin dabei. Er wolle ihr „nicht die Arbeit vorenthalten“. Sorokin lächelt ausnahmsweise, er spricht leise, denkt immer lang nach ...

Der Moskauer Dramatiker und Schriftsteller, 57, schreibt seit 40 Jahren; gern derb und systemkritisch. Sorokin gilt als Hauptvertreter der russischen Postmoderne und als einer der schärfsten Kritiker der politischen Eliten. Kiepenheuer & Witsch hat seine Romane, zuletzt „Schneesturm“ verlegt.

Leben in Russland: Eine Groteske
Zuletzt prangerten Mitte des Monats 27 Nobelpreisträger in einem Brief an Putin die Diskriminierung von Homosexuellen an. Der Protest gegen die neuen Gesetze möge zu einer Besinnung Russlands auf die "humanitären, politischen und alles umfassenden demokratischen Prinzipien des 21. Jahrhunderts" führen, äußerten die Unterzeichner in der britischen Zeitung Independent ihre Hoffnung.

KURIER: Welche Rolle spielt Zensur heute in Russland?

Vladimir Sorokin: Eine wichtige Frage. Derzeit haben wir in Russland noch keine Zensur von Literatur. Aber es gibt Zensur im Fernsehen und in den Medien. Putins Leute haben bisher noch nicht zum Schlag gegen die Schriftsteller ausgeholt. Ich betone „noch“. Wenn man berücksichtigt, dass der Machtapparat sich in einem Stadium befindet, wo die Paranoia immer weiter wächst, muss man aber auf alles gefasst sein.

Die Paranoia des Machtapparats, der sich wovor fürchtet?
Paranoia ist ein breit angelegter Prozess. Wenn die Machthaber begreifen, dass sie ihre Macht verlieren könnten, ergreifen sie drakonische Maßnahmen. Man versucht, der Gesellschaft Angst zu machen. Ein guter Nährboden für Zensur. Einige Verleger üben inzwischen selbst Zensur aus.

Sie sind dafür zu berühmt?
Natürlich.

Wie würden Sie reagieren?
(lacht) Ich würde wie immer schreiben, und ich werde immer einen Platz finden, wo das auch gedruckt wird.

Könnten Sie sich vorstellen, nicht mehr in Russland zu leben?
Freiwillig würde ich nicht gehen, aber wenn man derartig in mein Leben eingreifen würde, bliebe mir nichts anderes übrig.

Sie wurden im Westen mit Werken wie „Die Schlange“ und „Der Obelisk“ bekannt und gelten als Experte für Kannibalismus, Sadismus, Kot, Folter und Mord. Die Russland-Kritik in Ihrem jüngsten Roman „Der Schneesturm“ wirkt im Vergleich subtiler, fast zärtlich. Werden Sie mit dem Alter milde?
Das ist einfach: Ich schreibe sehr unterschiedliche Bücher. Das Wichtigste ist für mich, mich selbst in Staunen zu versetzen. Ich wollte immer schon eine hoffnungslose Winterreise beschreiben.

Aber ein eindeutiger roter Faden Ihrer Bücher ist das Spiel mit russischen Erzähltraditionen – schon bei Puschkin kommt der Schneesturm vor – und auch gewisse Archetypen wie der Kutscher. Es gibt Kontinuität, einmal mehr, einmal weniger brutal.
Stimmt, aber ich sage Ihnen: ich werde das nicht mehr wiederholen. Ich konnte nach dem „Schneesturm“ zwei Jahre nicht schreiben. Erst vor Kurzem habe ich ein neues Buch begonnen.

Verraten Sie da schon etwas?
Nein. Es wird etwas vollkommen anderes.

Im „Schneesturm“ geht es ja weniger um Systemkritik, als um die „russische Seele“: Gibt es die überhaupt?
Da müsste ich die Russen fragen. Ich werde das tun, wenn ich wieder nach Hause komme. Ich sage Ihnen Bescheid.

Man hat schon das Gefühl, Sie spielen mit Klischees: Bei Ihnen liegen die herzensguten, traurigen Kutscher betrunken im Schnee herum.
Diese Archetypen gibt es. Nicht in den Städten, aber in der Provinz. Wenn Sie sich nur 50 Kilometer aus der Stadt hinausbewegen, fühlen Sie sich wie in einer Zeitmaschine. In der Provinz ist die Zeit stehen geblieben. Ein Kutscher und ein Arzt fahren durch den Schneesturm. Das wiederholt sich in jedem Jahrhundert aufs Neue. Das ist russische Metaphysik. Das russische Leben ist eine Groteske. Man kann es nur mit fantastischem Realismus beschreiben.

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