Virtual Reality in der Kunst: Am Ende der Höhle

Die „totale Immersion“: Zuschauer erleben hochaufgelöstes Kino auf der Avant Première in Berlin
Auf welchen Wegen sich darstellende Kunst und Musik in eine digitale Zukunft katapultieren wollen.

Willkommen in einer komplizierten, aber verheißungsvollen Zukunft. Der virtuelle Raum wird bis auf Weiteres virtuell bleiben – nämlich fühlbar künstlich. Das menschliche Auge und das menschliche Gehirn bleiben immer noch unerreicht im Darstellen und Abrufen von optischen Informationen, noch dazu im dreidimensionalen Raum. Das wird auch auf Sicht so bleiben.

Die Hochtechnologie gräbt sich aber tiefer in die Unterhaltungsindustrie. Und immer öfter treffen dort neue Partner zusammen, die ihren Gleichklang erst finden müssen: Kunstschaffende, Produzenten und Technologieträger.

Auf der Messe Avant Première, die traditionell im Windschatten der Berlinale stattfindet, trifft sich jedes Jahr die kleine, bestens vernetzte internationale Elite jener, die hochqualitativen Hochkultur-Content verkaufen, und derer, die ihn ausstrahlen. Stundenlang sitzen die Einkäufer von Fernsehstationen in abgedunkelten Sälen, um sich die Showreels der Produzenten anzuschauen. Anna Netrebko hier, David Bowie da: Ein nicht versiegen wollender Strom von Unterhaltungskunst mit hoher visueller Anziehungskraft wird Jahr für Jahr auf den Markt geworfen. Aber welcher Markt ist das? Die CD-Verkäufe sind im Bereich klassischer Musik ins Bodenlose gestürzt. Downloads sind rückläufig, Streaming wirft kaum Geld ab. Fernsehen wird immer mehr zur verlässlichen Größe im Lizenzgeschäft. Mit starken Banden nach Österreich: Die Messe wird vom Internationalen Musik + Medien Zentrum in Wien organisiert, das sozusagen den Nukleus des Zusammenspiels von Hochkultur und Fernsehtechnik bildet. Als nämlich Herbert von Karajan damit begann, seine Orchester via Massenmedien zu vermarkten, traten allerorten einflussreiche Bedenkenträger auf den Plan. Das IMZ begann zu vermitteln und organisierte schließlich eine Fernehmesse für Hochkultur. Die ist nun ihrerseits im Wandel: Auf der Avant Première treten neue Größen aus dem Silicon Valley auf, die von den Vertretern der darstellenden Kunst und der Orchestermusik respektvoll bis skeptisch bestaunt werden. Google etwa. Der Suchmaschinenriese hat seine Daydream-Technologie mitgebracht, eine Brille für den virtuellen Raum, in der sich mittels Fernbedienung auch echte Interaktionen bewerkstelligen lassen. Außerdem hat Google viel Geld sowie unermesslichen Hunger nach Inhalten. Europa kann liefern.

Ein Kunde, ein Helfer, ein Freund und Feind gleichzeitig – der berühmte "Frenemy"-Status ist auch hier evident. Entsprechend fremd wirkt der Vortragende von Google in der Welt der Klassikexperten und Kunstgänger. Was ihn dafür von den anderen Rednern unterscheidet: Er hat die Zukunft bereits im Gepäck. Die VR-Brille Daydream basiert auf dem neuesten Google-Handy und ist bereits im Umlauf. Unser Eindruck: Ein sehr unterhaltsames Device, das aber in punkto Darstellungskraft noch nicht dort ist, wo die Kunst repräsentativ hin will. Gaming ja – Oper nein.

Datenfluss einer Kleinstadt

Die notwendigen Kapazitäten für wirklich großartige Virtual Reality-Inszenierungen aus Oper oder Theater wird es noch länger nicht geben: Um wirklich befriedigende Bilder in eine VR-Brille zu schießen, braucht es Auflösungen von 16K – die 64fache Auflösung eines Full-HD-Fernsehers, errechnete der Kameraspezialist Arri. Das bedeutet aber einen Datenfluss, der bei den gängigen Durchsatzraten eine Kleinstadt netztechnisch in die Knie zwingen würde.

Allerdings ist allen klar, dass diese künstlerische Spielwiese gerade in der darstellenden Kunst eine wichtige Rolle einnehmen wird. Schon träumt man davon, die Zuschauer direkt ins Bühnenbild zu beamen, um eine "totale Immersion" zu erreichen. Ein Anspruch, den das Theater schon immer hatte: Der Zuschauer beschreitet eine dunkle Höhle, um ungestört in das einzutauchen, was sich vorne auf der Bühne tut. Konsequent zu Ende gedacht wäre Virtual Reality das Ende dieser wirkungsvollen, aber recht archaischen Logik.

High, High Definition

Bis es soweit ist, wird beim regulären Fernsehen noch einmal an der Pixelschraube gedreht: Der japanische Fernsehsender NHK, sozusagen der ORF aus Nippon, stellte unter vielen "Oh’s und Ah’s" seine Technologierakete vor: Fernsehen in 8K. Die Kameras zeichen die 16 Mal höhere Auflösung auf als das gewohnte Full HD. Die daraus entstandenen Bilder atemberaubend zu nennen, wäre eine Untertreibung an der Grenze zur Unhöflichkeit. Allein die Kunstreproduktion erlebt hier eine atemberaubende Erhöhung. In der Qualität von High End-Fotografien streift die Filmkamera über die Risse in der Farbe der Mona Lisa und bietet Ansichten, die nicht nur technologisch spektakulär sind – sie sind gänzlich neu. Dazu kommt ein noch einmal verbessertes Sound-System: Neun Kanäle für die Höhen, zehn für die Mitten, drei Kanäle für die Tiefen und zwei Kanäle für tieffrequente Effekte. Wenn Anna Netrebko darauf ihren Puccini trällert, muss man darauf Acht geben, ob die Aufzeichnung nicht effektvoller ist als das Original.

Die Zielgruppe für solches Programm sind dieselben Menschen, die sich zuhause alte Karajan-Platten auf Vinyl auf einer Stereoanlage im Gegenwert eines Kleinwagens zu Gemüte führen. Auch hier ist der Hunger nach europäischen Inhalten sehr groß. Die deutschsprachige Opernwelt ist bereits im Visier des japanischen Senders: Ob Wien, Salzburg, München oder Bayreuth, verrät NHK aber nicht. Nur soviel: Man werde in "sehr naher Zukunft" 8K-Produktionen von dort ansehen können. In Japan läuft das Fernsehsignal ab 2018 über Satellit, die Olympischen Spiele 2020 sollen dann gänzlich auf 8K aufgezeichnet werden. Man könnte also anfangen, auf einen teuren Fernseher mit Multichannel-Sound zu sparen (eine tolle Netrebko-Aufnahme aus Japan gäbe es schon).

Ohne Hype: Alte Welt

Was Europa und die USA unterscheidet, macht ein Gespräch mit Kay Meseberg deutlich. Er ist bei Arte für die Virtual-Reality-Produktionen zuständig und repräsentiert den Sender, der neben der BBC die meisten Produkte auf den Markt bringt. Er ist sehr selbstbewusst, was die Technologieplayer aus dem Silicon Valley angeht: "Der Blick aus den USA auf VR ist ein sehr aktueller. Was aber Europa immer stark macht, ist, das kulturelle Erbe zu sehen und einen Blick auf die Technologie zu haben, der woanders ansetzt: Bei den Brüdern Lumière, die bereits 360-Grad-Aufnahmen produziert haben. Oder Sergej Eisenstein, der in den 30ern über Raumfilm geschrieben hat." Tatsächlich: Viele Kamera- und Aufführungskonzepte gab es bereits zu Stummfilmzeiten. Manches der heute angebotenen Produkte erinnert in Grundzügen daran. "Man muss aber auch sehen, dass das Auftreten der Konzerne aus den USA mit vielen Muskeln und finanziellen Mitteln verbunden ist. Welche Modelle sich da abzeichnen, ist sich gerade am Finden", sagt Meseberg.

Die Generalsekretärin des IMZ, Katharina Jeschke, hat einen pragmatischen Zugang: "Es kommt niemand dran vorbei, das ist klar." Als Marketinggag will sie VR nicht verstanden wissen. Eher als Vermittlungstool: "Es sorgt natürlich dafür, dass der Wert der Kultur gesteigert wird. Dafür geben wiederum andere Leute mehr Geld aus und vergeben Förderungen für Musikproduktionen." Der nächste Schritt: Ausbildung und Wissensvermittlung. "Gerade die Instrumentalisten haben die allerteuerste Ausbildungsschiene. Das ist ein Wert. Wir sorgen mit unseren Aktivitäten auch ein Stück dafür, dass dieser Wert hochgehalten wird. "

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