Experimente
Wer in der Kunst- oder Psychologiegeschichte sattelfest ist, wird das Bild, das am Eingang der Schau groß reproduziert wurde, vielleicht wiedererkennen: Die Darstellung einer Vorlesung, bei der der Arzt Jean-Martin Charcot in der Pariser Nervenheilanstalt Salpetrière neben einer in überstreckter Haltung zusammengesackten Patientin doziert, hing (als Druckgrafik) auch in der Praxis von Sigmund Freud, der 1885 Charcots Schüler gewesen war.
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Charcots Studien zur Hysterie, mit ihren fotografisch dokumentierten, nach Phasen geordneten Abfolgen des körperlichen und seelischen Kontrollverlusts – waren in ihrer Zeit bahnbrechend und enorm einflussreich. Aus späteren Perspektiven wurden sie kritisiert: als Produkte eines Weltbilds, das den Menschen als Maschine behandelte, als Projektionen vorgefasster Formenrepertoires auf weibliche Körper (viele Fotos waren gestellt). Als Werkzeuge, die das Klischeebild der hysterischen Frau wie ein Naturgesetz einzementierten.
Langer Schatten
Die Salzburger Ausstellung, kuratiert von Lena Nievers und Kerstin Stremmel, macht die Echos, die das Motiv des sogenannten „Arc de cercle“ seit Charcots Zeiten auslöste, mit präzise ausgewählten Exponaten greifbar. Die scheinbar ortlos im Raum fließenden Figuren, die um 1900 in den Werken von Auguste Rodin oder Gustav Klimt auftauchen, waren etwa ganz massiv von der Bildermaschine beeinflusst, die Charcot mit der fotografischen Aufbereitung seiner Studien angeworfen hatte.
Der moderne Ausdruckstanz eignete sich die Idee des Kontrollverlusts ebenfalls begierig an – und brauchte dazu enorme Körperbeherrschung. Tanzpersönlichkeiten, denen diese Gratwanderung gelang – etwa Jane Avril, Grete Wiesenthal oder Isadora Duncan – inspirierten ihrerseits bildende Künstler und Künstlerinnen wie Erika Giovanna Klien.
Konditionierung
Doch werden die Körper nun von einer externen dominanten Kraft zu ihren Verrenkungen angeleitet – oder winden sie sich vielmehr in einem Akt der Befreiung aus allen möglichen Zwängen heraus?
Mit dieser Frage ragt die Ausstellung aus der historischen Aufarbeitung tief in die Gegenwart hinein. Einige der jüngeren Künstlerinnen und Künstler kehren die Macho-Perspektive Charcots hervor (so ersetzt Valerie Schmidt die Frauenkörper in dessen Tabellen durch Matratzen), die Litauerin Eglė Budvytytė sieht in ihren Videos verrenkter Akteure wieder ein neuartiges Menschenbild. Dass man der Konditionierung nicht entkommt, ob nun in der Nervenklinik oder im Yogastudio, erkennt Barbis Ruder in einem witzigen Video.
Nicht fehlen darf auch der „Arc de Triomphe“ von Gelitin: die Skulptur eines überstreckten, urinierenden Mannes sorgte 2003, vor dem Rupertinum aufgestellt, für einen kleinen Festspiel-Skandal. Nun ist das Modell Teil der Schau.
Diese fügt sich in ihrem disziplinübergreifenden Ansatz und der Einbindung von Fotografie-, Tanz- und Theatergeschichte in eine gute Tradition des Salzburger Museums. Eine Empfehlung.
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