Vater Bein, Sohn Unterlippe

Mo Yan selbst ist traurig darüber, dass er nur ein Kind haben durfte; und seine Tochter beklagt, als Einzelkind einsam gewesen zu sein.
"Frösche": Der umstrittene chinesische Nobelpreisträger Mo Yan über die Ein-Kind-Politik.

Angeblich war es in manchen ländlichen Gegenden Chinas Brauch, den Kindern Vornamen von Körperteilen zu geben. Im Originaltext springen sie deshalb wohl nicht so ins Auge. In der Übersetzung jedoch drängen die Namen aufdringlich in den Vordergrund: Der Vater von Wang Leber heißt Wang Bein, Xiao Oberlippes Sohn heißt Unterlippe, Yua Backe zeigt auf Chen Nase ... Wie geht’s der Schwester, Leber?

Schon klar, was Mo Yan – das ist der 57-jährige Literatur-Nobelpreisträger von 2012, der Zensur ganz okay findet – damit bezwecken will: Sein Roman „Frösche“ über die chinesische Geburtenplanung bekommt dadurch märchenhafte Züge. Dazu kommen noch die Amphibien aus dem Titel, die – nicht nur in ihren Albträumen – „wie eine Flutwelle“ in Richtung Hauptfigur des Buches rollen und hasserfüllt quaken. Mo Yan hat’s gern fantastisch. Da kann man die schlimme Realität vernebeln; und trotzdem Kritik an der Ein-Kind-Politik üben. Wobei er die 1979 befohlene Wachstumskontrolle und -beschränkung gefahrlos kritisieren darf: In China wird mittlerweile offen darüber diskutiert. In den Dörfern setzte sie sich nie durch, und es gibt mittlerweile viele Ausnahmen.

Vater Bein, Sohn Unterlippe
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Aber wieso braucht Mo Yan Frösche? Frösche sind Symbol der Fruchtbarkeit, angeblich klingt ihr Quaken ähnlich wie der erste Laut eines Neugeborenen, und außerdem wird das chinesische Wort für Frosch fast genauso ausgesprochen wie jenes für Baby. Na gut.

Bei Fuß

Es ist ein stark konstruierter Roman. Auch stark erzählt, das schon, mit viel Dramatik, mit Humor sogar in den Dialogen, aber ein bissl laufen lassen (sozusagen) hat Mo Yan keinen der Mitwirkenden. Die gehen alle bei Fuß bzw. stehen stramm, und da erlischt das Interesse. Er hat seine Tante verewigt. Gugu war studierte Hebamme, eine Heldin anfangs, die dafür gesorgt hatte, dass in seinem Heimatort keine ahnungslosen alten Weiber mehr mithilfe eines Nudelwalkers Babys in die Welt holten.

Aber dann wurde die Partei ihre Familie – und sie wurde ein Todbringer: Ohne Geburtenrate, so hieß es, werden Berge und Flüsse ihre Farbe verlieren. Die Tante zog durchs Land und erzwang 2000 Abtreibungen. Später bereute sie, aber die Frösche wurde sie nicht mehr los. Die schönste Stelle im Roman ist die einfachste, ganz ohne Leber, ohne Galle, Oberlippe: Die Tante hilft Verwandten im Stall bei der Geburt eines Kalbes. Der Bauer ist freudig erregt: „Sie einer an, ein kleines Kuhkälbchen!“ „Sonderbar“, gerät die Tante in Wallung. „Bekommen die Frauen ein Mädchen, ziehen die Männer lange Gesichter, aber haben die Kühe ein Kuhkälbchen, strahlen sie übers ganze Gesicht.“

KURIER-Wertung: **** von *****

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