Im Kern stehen aber immer noch Videos von meist sehr jungen Menschen, die zu aktuellen oder weniger aktuellen Songs vor der Kamera herumwackeln. TikTok ist das soziale Medium der Gen Z, den Unter-22-Jährigen, und dort ist es riesig. Die App wurde bislang circa 1,5 Milliarden Mal heruntergeladen und hat aktuell 800 Millionen aktive Nutzer. Das ist extrem viel für einen Social-Media-Dienst, der erst 2018 weltweit gelauncht wurde. Instagram hat nur 200 Millionen aktive Nutzer mehr. Allerdings hat TikTok gegenüber Instagram den Wettbewerbsvorteil, in China nicht gesperrt zu sein.
Ganz im Gegenteil: Weil die App einem chinesischen Unternehmen gehört, sorgt sie immer wieder für Sicherheitsdiskussionen. In den USA gibt es regelmäßig Pläne, die App von alle Mobiltelefonen von Regierungsmitarbeitern zu verbannen.
Die Karriere eines Songs auf TikTok lässt sich gut am Beispiel von Doja Cats Nummer-1-Hit nachvollziehen. Im Dezember letzten Jahres postete die 17-jährige Haley Sharpe aus Alabama einen 15-sekündigen Clip, wo sie eine selbst kreierte Choreografie zu „Say So“ vorführte. Und löste damit einen Trend aus, der auch fast ein halbes Jahr später andauert.
Etliche User luden ihre eigenen Videos mit dem Tanz hoch, in einem auf der Plattform recht berühmten Clip störte sogar US-Schauspielerin Laura Dern ihre Teenager-Tochter, in dem sie von rechts ins Bild hineintanzte.
Mittlerweile gibt es auf TikTok 20 Millionen Videos, die „Say So“ als Song benutzen. Die Choreografie zu „Say So“ habe TikTok in ein „Dance-Powerhouse“ transformiert, schrieb das US-Musikmedium Pitchfork.
Es ist nicht der erste kommerzielle Charterfolg, der seinen Ursprung auf TikTok hatte. Das bekannteste Beispiel ist „Old Town Road“.
Der Rapper Lil X Nas veröffentlichte seinen Country-Rap-Song ursprünglich Ende 2018, ohne damit größere Aufmerksamkeit zu bekommen. Als drei Monate später Menschen auf TikTok begannen, in Country-Outfits dazu zu tanzen, sah die Plattenfirma ihre Chance und veröffentlichte den Song erneut. Er blieb 19 Wochen auf Platz 1 der US-Charts und brach damit den bisherigen Rekord. Ohne TikTok wäre das nicht möglich gewesen.
Die Augen der Musikindustrie sind längst auf die Plattform gerichtet. Hits entstehen nicht mehr in den Büros von Major-Plattenfirmen, zumindest nicht exklusiv.
Sondern eben auch auf TikTok, wo die Gen Z selbst entscheidet, was für sie ein Hit ist. Sie ist damit auch den besten Scouts der Musikindustrie oft ein paar Monate voraus, und diese können dann nur darauf reagieren.
Natürlich gibt es mittlerweile bereits Versuche, diesen viralen Erfolg künstlich zu erzeugen. Der US-Rapper Drake veröffentlichte im April den Song „Toosie Slide“. Der Chorus bestand nur aus Anweisungen, wie man die Füße zu bewegen habe.
US-Medien nannten den Song schnell eine „reine Business-Entscheidung“. Wie so oft wirken die ersten Versuche von etablierten Industrien, auf Veränderungen von unten zu reagieren, eher ungeschickt und hilflos. Aber mit der Zeit wird man sich auch dort besser auf die Gegebenheiten einstellen.
Bleibt noch die Frage, warum das Prinzip TikTok (Wir stellen euch die Songs zur Verfügung, ihr macht was damit) überhaupt so gut funktioniert. Der eine Teil der Antwort ist: Menschen tanzen gern, auch unter Anleitung.
Schon in den 90ern war die Frage, wie gut man zu einem Song choreografiert tanzen konnte, elementar wichtig für den Erfolg. Noch heute wissen die meisten ungefähr, wie der „Macarena“ geht. Es gibt auch andere Beispiel wie „The Ketchup Song (Asareje)“, bei dem auch ungeübte Tänzer die Bewegungen (rechte Hand über linke Hand, dann andersherum) problemlos nachvollziehen konnten.
Es hängt aber auch darüber hinaus mit dem Phänomen der „Memefizierung“, also kulturellen Verarbeitung des Ausgangsmaterials, zusammen. Die vorgegebene Tanzfolge wird ja nicht einfach stur nachgemacht. Im Rahmen der Millionen von Videos wird sie weiterentwickelt, ironisiert, in andere Kontexte gebracht.
Über Plattformen wir TikTok wird kommuniziert, auch wenn das auf den ersten Blick nicht immer gleich so ausschaut. Dass die Musikindustrie versucht, TikTok zu verstehen und zu nutzen, ist nur logisch.
Die Teenager sind die Kunden von heute und, vielleicht noch wichtiger, von morgen. Ihnen dorthin zu folgen, wo sie sich aufhalten, kann über Erfolg und Misserfolg und letztlich über Geld entscheiden. Man muss sich nur beeilen.
Der Erfahrung nach entwickeln sich viele Kommunikationswege von Jugendlichen meistens weiter, bevor Erwachsene sie verstehen können.
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