Auch wenn man sich das Programm wieder selbst zusammenstellen darf, gibt es doch einige Änderungen. Man braucht für fast jede der rund 140 Vorstellungen eine eigene, mit den Daten hinterlegte Eintrittskarte. Und im Herrenseetheater hat man sich aus Mangel an Babyelefanten mit dem reichlich im Waldviertel verfügbaren Material zu helfen gewusst: Etwa 60 Zentimeter hohe Holzpflöcke zwischen den Sesseln verunmöglichen Umarmungen.
In seiner Rede umarmte Stanek das Publikum metaphorisch. Kein Bildschirm könne eine Umarmung, ein gemeinsames Erleben, ersetzen. Und ohne die Umarmungen des Publikums würden die Künstler verarmen. Wie auch umgekehrt die Gesellschaft ohne die Umarmungen der Künstler verarmen.
Zeno Stanek will „zeitgenössische Theaterunterhaltung“ bieten – mit „dezidiert für das Theater geschrieben Stücken“. Ganz hat er die Programmatik nicht hingekriegt: Am ersten Wochenende gab es z. B. eine Dramatisierung des Fontane-Romans „Effi Briest“, ein Seminarkabarett mit 38 Tricks, wie man bei Diskussionen den anderen argumentativ in die Knie zwingen kann, und die musikalische Hommage an Wolfgang Bauer („Bauer to the people!“) von Helmut Bohatsch.
Zudem gab es Stückentwicklungen statt Stücke – wie auch postdramatisches Theater. Und das Motto „Arbeit und Schönheit“, unter das Stanek sein Programm gestellt hat, ließ sich nicht ganz nachvollziehen. Aber das kann auch daran liegen, dass viele Produktionen parallel gezeigt werden – und kein Reporter über alles berichten kann.
Er wohnte u. a. im alten Kaufhaus einer szenischen Lesung des Stücks „MK 19 25 4“ von Alexander Smirzitz bei, in dem es zu „Shine On You Crazy Diamond“ von Pink Floyd um Drogenexperimente geht; die Personen heißen – logisch – Syd und Roger (wie die Floyd-Mitbegründer Syd Barrett und Roger Waters) bzw. Lucy (wie in der LSD-Nummer „Lucy In The Sky With Diamonds“ von den Beatles). Zum Funkeln gebracht wurde das Stück u. a. von Karl Ferdinand Kratzl und Doris Weiner.
Die Glanzstunde der Doris Weiner, deren Lebensaufgabe das Volkstheater in den Wiener Außenbezirken war, folgte aber erst später: Im Dachstuhl der ehemaligen Strickerei brachte sie den Monolog „Höllenkinder“ von Gabriele Kögl zu Gehör. Während draußen, vor den Fensterbändern, die Sonne untergeht, erzählt eine Bäuerin vom Fest zu ihrem 80. Geburtstag, dem sie nicht ausgekommen ist, und von den patriarchalen Strukturen, unter denen sie ihr Leben lang leiden musste. Der Text, der betroffen macht, ist nicht nur perfekt gebaut: Er wurde von Azelia Opak und Andrea Zaiser äußerst stimmig umgesetzt – samt unter den Teppich gekehrten Geschichten. Das war weit mehr als nur eine szenische Lesung. Das war ein Ereignis.
In der Moorbucht rechnet Ophelia folgerichtig mit den alten, weißen, heterosexuellen Cis-Männern (also Männern im Männerkörper) ab. Ylva Maj lässt in der Uraufführung von Thyl Hanschos Stück „Hamlet muss weg“ unter funkelndem Sternenhimmel dem Hass nicht nur auf widerliche Typen wie Fritzl, Prikopil, Weinstein oder Trump freien Lauf; ihr Partner erweist sich da bloß als armes Würschtl.
Und wie schwierig es ist, Feminismus tatsächlich zu leben, zeigen beherzt, variantenreich, selbstkritisch und witzig die Schauspielschülerinnen Benita Martins, Hannah Rang und Runa Schymanski der MUK Privatuniversität in „Gib mir ein F“, inszeniert von Fritzi Wartenberg.
Natürlich gab es wieder „Küchenlesungen“ (verlegt in den Garten), „Teelöffelgespräche“ und nächtliche Diskussionen rund um den Feuerkorb, bespielt wurden unter anderem die Zetschenwiese und das alte Lichtspielhaus. Eine Attraktion war zudem die Fahrt mit der Waldviertelbahn – für ein „Roadmovie“ mit dem Titel „Falten im Anthropozän“: In jedem der vier Waggons bekommt man hintereinander vier Geschichten zu hören, die sich schließlich zu einer fügen.
Und gleich neben dem richtig malerischen Hoteldorf Königsleiten errichtete die Gruppe KollekTief – ebenfalls als Auftragsarbeit – eine ungemein aufwendige „Wagenburg“ aus fünf Containern mit gläsernen Fronten. Für zwei Wochen haben sich fünf junge Schauspieler, darunter Alina Schaller, Anna Marboe und Felix Kammerer, in Quarantäne begeben: Man kann zuschauen, wie die fünf schlafen, essen und arbeiten. Rausgewählt wird aber niemand. Und so durchleben die Fünf nicht nur die verschiedenen Phasen der Isolation (Leugnung, Zorn, Akzeptanz etc.), sie erzählen sich auch jeden Tag – wie im „Decamerone“ – neue Geschichten in Form von gemeinsamen Performances, Konzerten und Sketches.
Dieses schwer beeindruckende Experiment mit dem Titel „Bitte nicht berühren“ läuft bis 15. August und endet mit einem theatralischen Resümee. Wie überhaupt das nächste Wochenende spannend zu werden verspricht: Es gastiert u. a. das Gaststubentheater Gößnitz mit einer hinreißenden Farce. Und erstmals präsentiert werden Szenen aus „Furcht und Elend des Virus“ von Daniel Kehlmann.
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