Regisseurin Amélie Niermeyer: „Alle kämpfen mit einer Überforderung“
Unter ihrer Regie stand Otto Schenk das letzte Mal auf der Bühne – 2019 als Diener Firs in Anton Tschechows „Der Kirschgarten“. In der Folge hat Amélie Niermeyer, 1965 in Bonn geboren, im Theater in der Josefstadt „Anna Karenina“ und „Der zerbrochne Krug“ inszeniert. Nun folgt wieder Tschechow: Am Donnerstag hat die Tragikomödie „Onkel Wanja“ Premiere.
KURIER: Ensemblemitglieder haben in der Regel Jahresverträge. Sie müssen sich daher mit Kritik an der Direktion zurückhalten. Ähnliches gilt wohl auch für Sie, wenn Sie weiter an der Josefstadt inszenieren wollen?
Amélie Niermeyer: Gar nicht. ich habe keine negativen Erfahrungen mit Herbert Föttinger gemacht, im Gegenteil. Wir hatten zum Beispiel bei „Der zerbrochne Krug“ große Auseinandersetzungen. Ich wollte zum Schluss eine Frau zu Wort kommen lassen, er fand dieses feministische Ende problematisch. Aber ich bestand darauf. Eine Woche später sagte ich ihm, dass ich die Auseinandersetzung nicht so angenehm empfand. Er hat sich für die Vehemenz der Diskussion entschuldigt und mir gleich die nächste Inszenierung angeboten. Also: Föttinger lässt sich sehr wohl die Meinung sagen – und er schätzt es auch, wenn man eine andere Meinung hat.
Übergriffigkeiten konnten Sie keine beobachten?
Die Schauspielenden haben, gerade weil sie schon so lange am Haus sind, ein super Selbstbewusstsein. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie unterdrückt werden. An anderen Häusern, wo es häufigere Wechsel im Ensemble gibt, sind alle Mitglieder mehr von Angst geprägt. Deswegen war ich auch so überrascht, als ich von den Vorwürfen las. Ja, Herr Föttinger ist sehr deutlich und impulsiv in dem, was er sagt. Und das ist auch manchmal anstrengend. Aber es geht ihm immer um die Sache. So habe ich ihn zumindest erlebt.
Bei der Pressekonferenz im Juni sagte Föttinger: „Die Josefstadt ist durch mich relativ rot geworden.“ Und: „Wer sagt, dass die Josefstadt bürgerlich ist, der muss ja eh schon irgendwo Lähmungen im Hirn haben.“ Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Diese Haltung zeigt er auch in seinen Inszenierungen. Ihn interessiert sehr stark, wie der Nationalsozialismus in Österreich entstanden ist. Ich finde es toll, dass er vor der Gefahr warnt, wenn die FPÖ mehr zu sagen hat. Ihm ist das ein großes Anliegen. Das könnte sich, finde ich, noch deutlicher im Spielplan niederschlagen – mit mehr neueren Stücken.
Aber Sie inszenieren – nach dem „Kirschgarten“ – schon wieder Tschechow …
„Onkel Wanja“ wollte ich schon lange machen. Ich liebe das Stück nicht nur, weil es den Klimawandel thematisiert: Tschechows Figuren haben das Gefühl, dass sie an der Wirklichkeit scheitern. Sie sind gelähmt durch das, was auf sie einprasselt. Das entspricht, finde ich, extrem einem heutigen Lebensgefühl. Denn auf uns prasseln täglich so viele negative Nachrichten ein. Die Menschen fangen an abzuschalten: Sie wollen sich all dem nicht mehr aussetzen und flüchten in ein Inneres, in ein Zuhause. Hinzu kommt die Sorge, dass der Wald dem Klimawandel nicht mehr standhalten kann. Bei Tschechow ist in der Übersetzung von „Langeweile“ die Rede. Für mich ist „Trägheit“ der richtige Begriff. Eben weil man sich nicht klar verhalten kann und überfordert ist.
Wie bei einer Depression?
Ja, heute würde man von Depression oder Burn-out sprechen. Aber es gibt bei Tschechow auch so eine große Sehnsucht auszubrechen, die zu krankhaftem Aktionismus führt. Das macht auch den Witz bei ihm aus: Dass die Leute enorm schnell aneinander vorbeireden. Es ist ein Anreden gegen die Leere. Unser Abend ist daher nicht nur düster und schwer, sondern auch heiter. Aber alle kämpfen mit einer Überforderung.
Übertreiben Sie es nicht mit dem Altersunterschied zwischen Professor Serebrjakow und seiner Frau Jelena? Alma Hasun könnte locker die Tochter von Joseph Lorenz sein: Sie ist 35, er 64.
Er ist mir, ehrlich gesagt, wurscht. Mir war wichtig, dass die Figuren stimmen. Dass Alma Hasun den Sprung macht – von einem Mädchen zu einer Frau, die eine Meinung hat. Und Joseph Lorenz fand ich wie gespuckt für die Rolle des Professors. Er verkörpert diese Mischung aus Selbstironie und Selbstgefälligkeit und innerer Not.
Sie bedienen das Klischee.
Das steht eben im Stück. Ich hab’ wirklich lange drüber nachgedacht, aber man kann das nicht drehen – und auch nicht umschreiben. Ich habe nur Sätze abgeändert, die mit dem Wald und der Abholzung zu tun haben, damit sie besser ins Heute passen.
Bei den Festwochen 2023 war „Onkel Wanja“ zu sehen und 2022 im TAG. Sehr gut ist die Burg-Inszenierung von Matthias Hartmann in Erinnerung. Warum schon wieder? Die frühen Tschechow-Dramen hingegen werden kaum gespielt ...
„Iwanow“ hab’ ich inszeniert – aber nicht in Wien. Und über „Platonow“ haben wir diskutiert. Das Stück ist ein großartiger Auswurf, chaotisch und wild. Aber wir fanden, dass „Onkel Wanja“ für das Josefstadt-Publikum besser geeignet ist. Dennoch: „Platonow“ möchte ich unbedingt noch inszenieren!
In Föttingers letzter Saison?
Das will er, glaube ich, nicht. Es ist klar, dass ich inszeniere. Aber welchen Stoff, das ist nicht entschieden.
Sie haben seit 2019 – abgesehen vom „Krug“ – nur russische Stoffe umgesetzt. Setzen Sie die Reihe fort?
Nein. Ich muss mich vor meinen ukrainischen Studierenden am Mozarteum (sie leitet dort den Studiengang für Schauspiel und Regie, Anm.) immer wieder rechtfertigen, warum gerade jetzt die Russen ständig aufgeführt werden. Es stimmt, dass viele ukrainische oder belarussische Autoren gar nicht einmal in Erwägung gezogen werden. Auch deshalb, weil sie nicht übersetzt wurden – und wir sie daher nicht kennen. Ich würde mir wünschen, dass wir sie entdecken.
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