Theater in der digitalen Moderne: Hoffnungsschimmer im Ödland
Kay Voges eilte der Ruf voraus, „der digitale Zauberlehrling“ der deutschen Szene zu sein. Anfang Juni 2019, von der Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler zum Nachfolger für Anna Badora ernannt, kündigte er denn auch „ein Volkstheater für die digitale Moderne“ an.
Seit einem halben Jahr nun leitet Voges das Volkstheater. Zunächst, als die Pandemie einen Spielbetrieb eingeschränkt gestattet hätte, befand sich das Hauptgebäude in der Finalphase der Ertüchtigung. Und dann wurden die Bühnen geschlossen.
Das Burgtheater brachte nach der Schockstarre zumindest eine Produktion heraus, die spielerisch mit der neuen Situation umgeht: Der Zuschauer ist mit Bewegtbildern seines Konterfeis anwesend, wenn Michael Maertens über Transhumanismus referiert. Man sieht sich selbst auf der Tribüne sitzen – und weiß, dass man, auch wenn vorgefertigtes Material eingeflochten wird, einem Live-Ereignis beiwohnt. Also Theater in der digitalen Moderne.
Bemühte Persiflage
Der Prophet jedoch blieb stumm. Nein, nicht ganz: Er stellte sein Programm in einem gestreamten Video vor. Aber den Beweis, dass sich das Theater nicht ganz den äußeren Umständen beugt, blieb Voges schuldig. Bisher.
Doch nun gab das Volkstheater ein Zeichen von sich – mit einer Produktion des Volkstheaters in den Bezirken unter der Federführung des Grazer Theaters im Bahnhof: Am Freitag um 19.30 Uhr fand die „Online-Premiere“ von „Die Recherche-Show“ statt. „Live aus der Dunkelkammer des Volkstheaters“, also aus dem Hauptgebäude, würde „diese ungewöhnliche Show“ ins Netz übertragen: „In einer Symbiose von Journalismus und Entertainment“ hätte man „Geschichten über Red Bull, wie sie noch nie erzählt wurden“, aufbereitet: „Ganz neu und extrem!“ All das, was das Kollektiv Dossier in „einer ihrer größten Recherchen“ herausgefunden habe, komme als erlebbare Reportage „auf die Bühne“.
Möglicherweise ist schon diese vollmundige Ankündigung im Fellner-Stil eine Persiflage. Die Darbietung selbst war jedenfalls eine – auf die Talkshows mit Privatpersonen im Privatfernsehen. Sollte es tatsächlich – zumindest von den Dossier-Journalisten rund um Georg Eckelsberger – den Ansatz gegeben haben, sich kritisch mit Dietrich Mateschitz und dessen Imperium auseinanderzusetzen: Er wurde erstickt im trashigen Studio-Design mit Glitterschnüren und grotesken Pepita-Kostümen, von bewusst grottigen Dialogen, jämmerlichen Musik-Clips und absurden Mitmachfragerunden.
„Extrem“ Neues über Red Bull erfuhr man nicht: Dietrich Mateschitz mag keinen Betriebsrat, Felix Baumgartner ist eher jenseits, im Extremsport sterben Athleten. Und dass 100 Menschen nach dem Kampftrinken von Energy Drinks ex gegangen seien, reicht angesichts der Abermillionen Alkohol-Toten wohl kaum für einen veritablen Skandal. Die spannendste Frage war, ob die plumpen Pannen live passierten – oder ob sie inszeniert waren. Pia Hierzegger als Moderatorin mit Chris-Lohner-Perücke und einem (behaupteten) Stierhoden als Gabelbissen mühte sich leider erfolglos.
Zugespielter Jubel und eingeblendete Chat-Fan-Postings – Daumen-rauf-Emojis sonder Zahl – beendeten nach 85 Minuten die von Ed. Hauswirth inszenierte „Show“, die ein wenig an Peter Lodynskis Serie „Tohuwabohu“ aus den 90ern erinnerte. Zum Glück musste man nicht in einem Saal in den Wiener Außenbezirken sitzen. Sondern genoss alle Freiheiten daheim.
Das Grazer Schauspiel hingegen vermochte mit Tiefgang und Ästhetik zu packen. Auch wenn es sich bei der „deutschsprachigen Erstaufführung“ von Johan Harstads „Krasnojarsk“ definitiv nicht um ein Theater in der digitalen Moderne handelt – sondern um einen mit der 360-Grad-Kamera aufgenommen Film. Den man natürlich nicht gemeinschaftlich sieht, sondern ganz allein für sich.
Beklemmende Parabel
Und den man auch nicht als Stream geboten bekommt: Die einstündige „Endzeitreise in 360°“ wird einem mit der Post nach Hause geliefert – hochgeladen in einer Virtual-Reality-Brille (die man wieder zurückschicken muss).
In seiner dystopischen Parabel nimmt der Norweger Harstad bei „Robinson Crusoe“ wie „Fahrenheit 451“ Anleihen: Nach einer gewaltigen Naturkatastrophe ist die Welt versunken – bis auf Teile der eurasischen Platte. Ein Anthropologe, der bei einem Kongress in Sibirien weilte, ist bereits seit 15 Monaten auf der Suche nach Zeugnissen menschlicher Existenz.
Jeden Tag hat er, wie seine ebenfalls ausgeschwärmten Kollegen, Codes an die Organisatoren von „Neustart“ zu funken. Und nun trifft er in dieser unwirtlichen Steppenlandschaft eine Frau. Weil sie, eine Schweizerin, in Berlin gelebt hat, nennt er sie eben „Kreuzberg“. Gemeinsam entdeckt das Paar, verkörpert von Nico Link und Katrija Lehmann, in einem verlassenen Gehöft einen Plattenspieler – und hört beglückt Musik: Mit diesem Tag habe wieder das Leben angefangen.
Zudem macht der Forscher über die Frau einen sagenhaften Fund: zwei Samsonite-Koffer mit 132 Lebensgeschichten. Er saugt die Berichte gierig in sich auf, er lernt sie gar auswendig. Und dann fällt der – auch für die Theatermacher im Lockdown – entscheidende Satz: „Alle Geschichten sind unterm Strich wertlos, wenn man sie niemandem erzählen kann.“
Die nachfolgenden Volten dürfen natürlich nicht verraten werden. Markus Zizenbacher und Tom Feichtiger haben jedenfalls im Seewinkel und in der Weizklamm einen atmosphärisch enorm dichten Film in Schwarz-Weiß mit raffiniert langsamen Überblendungen gedreht.
Man sitzt im Drehstuhl, ist wie hypnotisiert. Und irgendwann entdeckt man den einzigen Schwachpunkt. Denn man hört z. B. eine Stimme von links. Wenn man den Kopf um 180 Grad dreht, müsste man sie von rechts hören. Aber die Stimme ertönt weiterhin von links ...
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