Riccardo Muti: "Die Welt ist in völlige Konfusion geraten"

Riccardo Muti
Der neapolitanische Maestro Riccardo Muti über Cherubini, den Beruf des Dirigenten, die Basis der Demokratie und warum er mit 75 Jahren für die Behörden als weniger gefährlich gilt.

Heute, Sonntag, leitet er im Musikverein noch einmal die Wiener Philharmoniker bei Werken von Franz Schubert und Luigi Cherubini. Beim Japan-Gastspiel der Staatsoper wird er in Yokohama mit Mozarts "Le nozze di Figaro" auch wieder Oper dirigieren. Im Jänner 2017 kommt er mit "seinem" Chicago Symphony Orchestra wieder für eine Residenz in den Musikverein. Und bei den Salzburger Festspielen 2017 wird er bei einer Neuproduktion von Giuseppe Verdis "Aida" zu erleben sein. Für den KURIER nahm sich Stardirigent Riccardo Muti Zeit für ein ausführliches Gespräch über Musik und die Welt.

KURIER: Maestro, Sie dirigieren im Musikverein neben Schuberts vierter Symphonie auch das eher selten gespielte Requiem von Luigi Cherubini, einem Komponisten, der Ihnen sehr am Herzen liegt. Haben Sie eine Erklärung, warum Cherubini heute kaum mehr gespielt wird?

Riccardo Muti: Cherubini war zu seiner Zeit einer der populärsten und erfolgreichsten Komponisten. Für Brahms etwa war er neben Bach und Beethoven einer der Säulenheiligen. Cherubinis Musik – auch die Opern – gehört zum Wertvollsten, was Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde. Aber Cherubini macht es uns nicht allzu leicht ...

Inwiefern?

Cherubini hat seine Musik nur um der Musik willen und um seiner selbst willen komponiert. Er hat nie auf das Publikum geschielt. Sein Requiem etwa verzichtet – anders als jenes von Verdi – auf jede Form der Effekte. Es gibt kein großes, überbordendes Finale. Das ist eine Musik, bei der man wirklich zuhören muss und bei der man sich als Dirigent vordergründig nicht sonderlich profilieren kann. Warum wird die dritte Symphonie von Johannes Brahms viel seltener aufgeführt als seine anderen? Ganz einfach: Sie klingt langsam aus. Ohne Showeffekte, auf die manche meiner Kollegen gern setzen.

Geht es heute tatsächlich mehr um Show als um Inhalte?

Ich habe manchmal diesen Eindruck. Mein großer Lehrer und Mentor Antonino Votto, der Assistent bei Arturo Toscanini war, hat einmal zu mir gesagt: "Wenn Du vor dem Orchester stehst und die Hand hebst, wird sicher irgendetwas passieren. Doch das muss noch lange nichts mit Musik zu tun haben." Ich denke, ich könnte jedem nur halbwegs talentierten Verkehrspolizisten etwa bei einer Schubert-Symphonie in kurzer Zeit erklären, wann er wo richtigerweise die Hand zu heben hat. Nur heißt das noch lange nicht, dass dieser Verkehrspolizist deshalb ein großer Dirigent ist.

Was macht einen großen Dirigenten denn aus?

Die gewissenhafte Probenarbeit und das Wissen um das Wesen der Musik. Heute gibt es viele von Plattenfirmen oder ihren Managern forcierte Dirigenten, die wie wild auf dem Podium herumhüpfen und große Gesten machen. Das Publikum soll dann glauben: Der empfindet die Musik aber wirklich. Insofern ist der Beruf des Dirigenten heute sehr bequem geworden. Man kann viel leichter bluffen. Denn die Menschen hören weniger genau zu und fallen mitunter auf optische Effekte herein. Viele hören mit den Augen. Meine Gesten werden mit zunehmendem Alter hingegen immer sparsamer. Denn die eigentliche Arbeit passiert während der Proben.

Haben wir das bewusste Zuhören verlernt?

Wir haben in unserer schnelllebigen Welt ein Zeitproblem. Wir halten die Vergangenheit am Handy fest, sind mit den Gedanken jedoch bereits in der Zukunft, die dann natürlich auch dokumentiert wird. Aber wir vergessen gern auf die Gegenwart. Den Moment, den Augenblick im Hier und Jetzt, den gibt es kaum mehr. Aber das ist nur ein Aspekt einer Welt, die in völlige Konfusion geraten ist. Wir haben in allen Bereichen den Tritt verloren.

Welche Bereiche meinen Sie?

Alle Facetten des Lebens. Das beginnt bei der Bildung, die so lebensnotwendig für unsere Gesellschaft ist. Nur wenn wir unsere Geschichte auch kennen und im Idealfall sogar aus ihr lernen, können wir mit den Problemen der Gegenwart umgehen, vielleicht auch Antworten oder Lösungen finden. Aber wir sind da völlig hilflos. Krieg, Terror, Wirtschaftskrisen, Flüchtlingstragödien – wo haben wir denn die Antworten darauf? Ich sehe sie nicht. Ich sehe überall nur Ängste. Die sind teils auch berechtigt. Aber Angst ist – anders als Kommunikation – immer der schlechteste Ratgeber.

Kann die Kunst, kann die Musik hier etwas tun?

Ja. Wenn wir beide jetzt miteinander musizieren wollen, streben wir doch beide danach, dass es für uns angenehm ist. Ich spiele auf meinem Instrument das, Sie auf Ihrem das. Wenn wir einander zuhören, treten wir in einen Dialog, der für uns beide das Ganze angenehm macht. Doch dafür müssen wir einander auch zuhören. Das geschieht im realen Leben viel zu selten, ist aber in der Musik absolut notwendig. Insofern ist Musik vielleicht sogar die Basis jeder Demokratie.

Sind Sie eigentlich ein demokratischer Dirigent?

Ehrlich, ich kann Aussagen mancher Kollegen wie "Ich bin am Pult kein Tyrann" nicht mehr hören. Wenn ich mit Musikern, mit Sängern oder einem Regisseur arbeite, werden wir im Idealfall alle unsere Meinungen respektieren und darüber diskutieren. Bei der Aufführung selbst aber muss es jemanden geben, der die Gesamtverantwortung übernimmt. Um nochmals Antonino Votto zu zitieren: "Du hast als Dirigent den besten Platz im ganzen Haus. Und das gratis. Also bist du für alles verantwortlich." Ich halte das so.

Ist das einer der Gründe, weshalb Sie selten Oper dirigieren?

Ja. Ich gehöre nicht zu jenen, die eine Woche vor der Premiere ins Haus kommen, szenisch irgendetwas vorfinden und dann ihr Programm abspulen. Bei einer Oper muss alles ineinandergreifen. Das ist aufgrund der viel zu kurzen Probenzeiten leider nur selten möglich.

In Yokohama aber dirigieren Sie wieder Oper, an der Staatsoper nicht ...

Da habe ich die Vorbereitungszeit mit dem Orchester und den Solisten. Und ich kenne die wunderbare Inszenierung von Giorgio Strehler, mit der die Staatsoper in Japan gastiert, sehr gut. In Wien ist sie ja leider durch eine andere, untaugliche Inszenierung ersetzt worden. Das ist schade.

Sie haben sich aber glücklicherweise überreden lassen, in Salzburg eine Neuproduktion der "Aida" mit Anna Netrebko zu dirigieren ...

Ja, weil mich das Konzept der iranischen Künstlerin Shirin Neshat überzeugt hat. Sie arbeitet – wie einst Strehler oder Wieland Wagner – viel mit Licht und will "Aida" als intimes Drama erzählen. Das ist es bis auf den Triumphmarsch ja auch. Ich kann bei "Aida" schon keine Elefanten mehr sehen. Das oft beschworene Postkarten-Ägypten existiert ja in der Musik nicht. Verdi zeichnet hier das Seelendrama zweier Frauen. Jenes von Aida und Amneris. Radames ist da gar nicht so wichtig. Denn Verdi hat Tenöre nicht sonderlich gemocht, was man oft auch hört. Aber zwei Frauen, die aus unterschiedlichen Kulturen kommen und um einen Mann streiten – das finde ich hochaktuell.

In Chicago machen Sie Opern rein konzertant ...

... was sehr gut angenommen wird. Ich bin seit 2010 dort Chefdirigent und das Orchester verbessert sich mehr und mehr. Wir sind zusammengewachsen und haben ein sehr gutes Publikum.

Und wie sieht es finanziell aus?

Da der Staat in den USA kein Geld gibt, sind wir auf Sponsoren angewiesen. Die haben wir noch. Ich weiß, dass viele andere Orchester, auch große Orchester wie jene in Philadelphia oder Pittsburgh, massive Probleme haben. Natürlich muss man kämpfen, aber das lernt man im Gegensatz zu anderen Dingen in Amerika sehr schnell.

Welche Dinge haben Sie dort noch nicht gelernt?

Gewisse Eigenheiten. Sie wissen, die US-Behörden sind sehr strikt. Am Flughafen etwa wird immer scharf kontrolliert aus Angst vor Anschlägen. Man muss seine Schuhe ausziehen und seinen Gürtel ablegen. Das habe ich auch immer gemacht. Doch letztes Mal sagte mir einer der Musiker: "Maestro, Sie müssen das nicht mehr tun." Ich fragte, warum. Und er antwortete: "Sie sind jetzt 75. Sie stellen für die Sicherheitsbehörden in diesem Alter kein Risiko mehr da. Das steht so im Gesetz." Worauf ich sagte: "Vorsicht! Paloma Picasso wurde auch erst mit 80 gezeugt."

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