Die Realität hinter der "Fantasie von Kiew"

Da muss was erblühen: Kiew vor dem Song Contest
Ein Bogen, der kein Regenbogen sein darf, Armut, aber auch Öffnung und neue Freiheiten: Kiew hämmert sich anlässlich der jetzt startenden Eurovision ein Bild für Europa zurecht.

Kiew, am linken Ufer des Dnipro. Eine Schlafstadt: Wohntürme, Supermärkte, Autoschnellstraßen und Zubringer, ein Kongresszentrum. Hier steigt ab Mitte nächster Woche der Eurovision Song Contest. An der nagelneuen U-Bahn-Station Liwoberezhna wird noch gebaut. Einige Kioske vor der Station mussten verschwinden. Geblieben sind ein kleiner Straßenmarkt, einige alte Damen, die unter einer frisch bemalten Autobahnbrücke selbstgepflückte Blumensträuße für umgerechnet ein paar Cent verkaufen, haufenweise Polizisten und ein alter Herr, der vor der Station auf einem verbeulten Saxofon spielt – begleitet von einen Drum-Computer.

"Kiew ist nicht hübsch und wird es nie sein", sagt ein junger Mann mit Locken und modisch seitlich abrasiertem Haar über die abgebauten Kioske und die frisch gestrichenen Fassaden an diesem ansonsten eher vernachlässigten Flecken der Stadt. Gegen den Contest ist er nicht, wie er sagt. Nur dagegen, dass Kiew sich selbst als etwas präsentieren will, dass es nicht ist. Nämlich eben "hübsch", wie er meint. Was Kiew den Besuchern zu Eurovision zeigen wolle, komme viel eher einer "Fantasie von Kiew" gleich – sei aber eben nicht Kiew. Den U-Bahn-Zug in die Stadt nützt dann ein älterer Herr mit einer Gitarre, für seinen eigenen kleinen Contest. Er besingt die Liebe und die Schönheit für ein Paar Geldscheine.

Fluchtort

Kiew, das ist eine Stadt deren gesamte Textur sich in den vergangen Jahren von Grund auf verändert hat. Eine Stadt der Gegensätze zwischen Arm und Reich, zwischen politisch und völlig unpolitisch, zwischen politischen Extremen, zwischen sowjetischer Mentalität und Aufbruch. Von den geschätzten 1,3 Millionen Menschen, die innerhalb der Ukraine vor dem seit 2014 tobenden Krieg im Osten und der Annexion der Krim durch Russland geflohen sind, ist die überwiegende Mehrheit nach Kiew gegangen. Der Krieg ist fern hier. Mit der Revolution 2013 und 2014 hat sich Aufbruchstimmung breitgemacht – neue Läden, neue Lokale, neue Clubs, neue Freiheiten. Vor allem aber: ein durchaus zuweilen großes Selbstbewusstsein der Bürger dem Staat und seinen Autoritäten gegenüber.

Zugleich aber hält eine hartnäckige Wirtschaftskrise die Stadt wie auch das gesamte Land hartnäckig in Atem bei damit einhergehendem Währungsverfall. All das gewürzt mit den Nachrichten von Tod und Gewalt an der Front und mehr oder weniger gelenkt von einer politischen Elite, die mit dem neuen Ego der Wählerschaft nur zum Teil umzugehen gelernt hat.

Es sind Schlafbezirke wie jene am linken Ufer des Dnipro, in denen sich die Probleme der Stadt manifestieren. Es ist hier, wo Binnenflüchtlinge aus dem Osten des Landes Fuß zu fassen versuchen. Das geht nicht immer ohne Konflikte vonstatten. Und mitunter ist es ein kleiner Kulturkampf, zwischen Ost- und Westukraine, der sich hier bemerkbar macht – etwa bei der Arbeitssuche.

Mitunter sind es aber auch ganze Organisationen und Institutionen, die aus dem Osten des Landes nach Kiew gegangen sind und die Stadt nachhaltig geprägt haben. So die Kultur-Institution Izolyatsia, einst das Aushängeschild der Kunst-Szene des Donbass mit Sitz in Donezk, jetzt eine Institution in Kiew, die in leer stehenden Gebäuden einer Werft Arbeits- und Ausstellungsräume für Kreative anbietet und selbst internationale Kulturschaffende nach Kiew bringt. Auch das nicht immer ohne den Neid alteingesessener Kultur-Institutionen. Aber Izolyatsia hat sich durchgesetzt – wenn auch mit offenem Unverständnis der angrenzenden Werft konfrontiert. Da werden dann Dinge wie vom Dach aus zu fotografieren zum Problem. "Sowjetische Paranoia" nennt das der junger Mann, der den Coworking Space von Izolyatsia nutzt.

Oleksandr Wynogradow stammt selbst aus Kiew und arbeitet für Izolyatsia. "Es ist gerade die Intelligenz aus dem Osten der Ukraine, die derzeit alles in Kiew vorantreibt und die Stadt zu dem macht, was sie ist", sagt er.

Als Motor des Kulturlebens bezeichnet er den Zuzug aus dem Osten. Auch wenn er diesen Vergleich nicht ziehen will, so fällt dann doch der Name Berlin. Und auch, wenn er das relativiert, sagt er: "Heute ist Kiew kosmopolitischer als zuvor."

Liubom Mikhailowa, Initiatorin von Izolyatsia, sieht das pragmatisch: "Die Macht", sagt sie, "hat ihre eigene Agenda." Aber: "Sie haben uns arbeiten lassen und standen uns nicht im Weg; und jetzt kommen sie sogar zu Events und sagen, dass sie unsere Arbeit mögen."

Das ist neu in der Ukraine.

Harte Realität

Über harte Realitäten kann das aber nicht hinwegtäuschen. "Was bleibt einem, als sich nebenbei etwas schwarz dazuzuverdienen, wenn man sich die Miete nicht mehr leisten kann, aber eine Familie zu versorgen hat?", sagt ein Herr, ein Elektriker, der nebenbei Taxi fährt oder an Wochenenden pfuscht. Genau die Schwarzarbeit ist es aber, durch die dem Staat Steuereinnahmen entgehen. "Wieso soll ich denen auch nur einen Cent zahlen", sagt ein anderer Herr mit Ledermütze, der ein kleines, nicht näher benanntes Business besitzt, wie er sagt. In der politischen Elite des Landes wie der Stadt sieht er nur Kriminelle.

Zugleich aber beschweren sich beide über Reformstau, dass nichts weitergeht in der Ukraine und Behörden korrupt sind, weil die Löhne zu gering sind.

Chance Song Contest

Lyudmila Bereznitski, Abgeordnete im Stadtrat Kiew wiederum weist gar nicht zurück, dass es Probleme gibt. "Aber es gibt auch Fortschritt und Verbesserungen", sagt sie. Und Eurovision sei vor allem eines: Eine Chance.

"Wir sind gewissermaßen Anarchisten", sagt Oleksandr Wynogradow über die Ukrainer im allgemeinen. "Meister in der Improvisation", nennt es eine Dame um die 40. Und Shenja, ein junger Programmierer, sagt "die Behörden haben es in vielen Bereichen einfach aufgegeben, alles regulieren zu wollen." Was daraus entstehe? Er nennt es: "Freiräume." Freiheiten, die alle möglichen Lager nutzen.

Die Realität hinter der "Fantasie von Kiew"
Workers decorate the rainbow "Arch of friendship" former Soviet era monument representing Russian and Ukrainian union, during the preparations in Kiev on April 27, 2017, for the Eurovision Song Contest 2017 to be held in the Ukrainian capital from May 9 to 13. / AFP PHOTO / Sergei SUPINSKY
Eine kleine Eurovision-Episode – ein kleiner Einakter: Die Stadtverwaltung unter Bürgermeister Vitali Klitschko wollte den aus Sowjetzeiten bestehenden riesigen Eisen-Bogen am Ende der Stalin-Gotik-Prachtstraße Khreshatik im Zentrum anlässlich des Song Contests in Regenbogenfarben bemalen. Rechtsextreme Aktivisten waren dagegen und sabotierten das Vorhaben. Der Kompromiss: Die noch nicht bemalten Teile des Bogens sollten mit traditionellen ukrainischen Stickerei-Mustern bemalt werden. Die Reaktion: Vor allem Hohn und Unverständnis. Ein Bursche in dem Park um den Bogen sagt: "Was ist falsch an einem Regenbogen? Wen soll das kümmern?"

Klitschko hat es geschafft, in die zweifelhaften Fußstapfen seiner Amtsvorgänger als Bürgermeister zu treten. Die hatten sich vor allem durch Inkompetenz und zuweilen im besten Fall schrullige Verhaltensauffälligkeiten hervorgetan. Klitschko wird eher belächelt als ernst genommen. Als eine Straßenbrücke in einem versifften Außenbezirk zusammenbrach und nur durch Zufall niemand getötet wurde, kursierte im Internet ein Foto von ihm am Schauplatz des Unglücks. Die Sprechblase: "Hier ist doch kein Fluss, wieso brauchten wir da eine Brücke?"

Homosexualität: "Solange ihr in euren Clubs bleibt"

Ein soziales Experiment sollte es werden: Ein Spaziergang zweier Männer Hand in Hand durch das Zentrum Kiews, all das mehr oder weniger heimlich gefilmt. Nach zwei Stunden eskaliert die Sache auf der Khreshatik, dem zentralen Boulevard Kiews. Zwei junge Männer attackieren Zoryan Kis und seinen Lebensgefährten mit Pfefferspray.

Vor zwei Jahren war das. Heute sitzt Zoryan Kis in einem Cafe im ebenso schicken wie schmuddeligen Bezirk Podil und trinkt grünen Tee. Es ist eine gemischte Bilanz, die er aus den Jahren seit der Revolution 2013 und 2014 zieht.

Von Schritten nach vorne spricht er. Aber ebenso von Stillstand und der Möglichkeit, dass sich die positiven Entwicklungen der letzten Jahre durchaus auch in Luft auflösen könnten. Denn, so sagt er: Der Schwung in der politischen Debatte nach der Revolution 2013/’14, der sei dahin. Schwul oder lesbisch zu sein in Kiew nennt er dann aber doch noch "relativ sicher".

Tabu

Sex an sich ist ein Tabu in der Ukraine – auch wenn das Thema auf Werbetafeln und im Stadtbild omnipräsent ist, so sind es dann aber doch die klassischen Rollenbilder, die Werbesujets und öffentliche Debatte dominieren: Alphamännchen und adrettes Weibchen.

Homosexualität, Travestie, Bisexualität, Queer haben da keinen Platz.

Dabei ist die politische Debatte durchaus fortgeschritten. So wurde etwa ein Gesetz verabschiedet, das sexuelle Diskriminierung am Arbeitsplatz verbietet. Präzedenzfälle gibt es aber nicht. Zu folgenschwer wäre es im privaten Umfeld wie auch im beruflichen für die Allermeisten, sich zu outen.

Im nationalen Aktionsplan der Regierung ist auch vorgesehen, ein Gesetz für eine eingetragene Partnerschaft für homosexuelle Paare zu entwerfen. Bloß: "Es fehlt an politischem Willen", wie Zoryan Kis sagt. Konservative Kräfte sind im Parlament absolut in der Mehrheit. Die Zahl der Übergriffe nahm laut Zoryan Kis zwar auch zu, zugleich aber habe sich die Haltung der Polizei massiv verbessert.

Stillschweigen

Dabei besteht eine durchaus organisierte Schwulen und Lesben-Szene in Kiew, die mehr und mehr danach trachtet, auf die eigenen Rechtsansprüche öffentlich aufmerksam zu machen. Es gibt Clubs, zivilgesellschaftliche Organisationen.

Und, so sagt Zoryan Kis, mit der extremen Rechten zumindest in Kiew auch so etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft, dass diese Treffpunkte nicht angetastet würden. Frei nach dem Motto, wie er meint: "Solange ihr in euren Clubs und Schlafzimmern bleibt, lassen wir euch in Ruhe."

Die jährlich anwachsenden Pride-Märsche in Kiew bedurften in den vergangenen Jahren aber jeweils großer Polizeipräsenz. Wobei sich die Zusammenarbeit mit der Polizei, wie Kis sagt, in den vergangenen Jahren massiv verbessert habe: Von der Verweigerung der verantwortlichen Polizeikräfte bei den Vorbereitungen, LGTB-Aktivisten die Hand zu schütteln, bis zu "exzellenter" Kooperation im Vorjahr, wie Kis sagt. Da mache sich die Reform der Polizei, die vielfach auch kritisiert wurde und wird (zu unprofessionell, "Kinder" nennt sie ein Mann), in positivstem Sinne bemerkbar.

Machismus

Es seien letztlich die festgefahrenen Geschlechter-Rollenbilder, gegen die die LGTB-Community in der Ukraine in vielen Bereichen anrenne. "Was wir als Schwule durch unsere schiere Existenz tun ist nichts weniger, als die Macho-Kultur in diesem Land in Frage zu stellen", sagt Kis. Eine Macho-Kultur die ihre Wurzeln in der sowjetischen Sozialisierung habe, in der Sex eine reine Sache der Fortpflanzung und keinesfalls der Lust war – was von den Kirchen des Landes heute massiv weitergetragen werde. Wobei religiöse Führer wieder ganz offen Druck auf die Politik ausüben würden. Und mit dem Krieg, so sagt Kis, habe sich dieser Machismo durchaus verstärkt.

Die Realität hinter der "Fantasie von Kiew"
Mayor of Kiev Vitaly Klitschko delivers a speech during the opening of the Eurovision Village, an official fan zone for the Eurovision Song Contest 2017, in central Kiev, Ukraine, May 4, 2017. REUTERS/Valentyn Ogirenko
Und Druck kommt auch von rechten Gruppen, die das Regenbogen-Beispiel in Kiew zeigt (siehe links): Rechte Gruppen hatten gegen die Bemalung eines riesigen Stahl-Bogens im Zentrum Kiews in Regenbogenfarben demonstriert. Auch auf diesen Vorfall antwortete Zoryan Kis mit einem Video: Darin empfiehlt er den Zusehern beim Betrachten des Regenbogens eine Schweißbrille, eine Röntgenbild, eine getönte Glasflasche oder Sonnenbrillen vor die Augen zu halten, um nicht von Homosexualität infiziert zu werden. Was der LGTB-Szene bleibe, so sagt er: Eine Offensive in die Öffentlichkeit. "Die Menschen müssen uns kennenlernen."

Irgendjemand müsse ja damit anfangen.

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