"Siegfried": Misstraue allen Ideologien!

"Siegfried": Misstraue allen Ideologien!
Kritik: "Siegfried" in Bayreuth – der bisher intensivste Abend der neuen "Ring"-Produktion.

Nun ist es nicht nur erlaubt, sondern auch geboten, erste Prognosen abzugeben: Der neue „Ring des Nibelungen“ in Bayreuth, musikalisch betreut von Kirill Petrenko und szenisch entfremdet von Frank Castorf, wird – falls in der „Götterdämmerung“ am Mittwoch nicht alles schiefläuft – als bester „Ring“ seit 1976 in die Festspielgeschichte eingehen, seit der Zusammenarbeit von Patrice Chéreau und Pierre Boulez.

Die „Siegfried“-Premiere legt diese Mutmaßung nahe: Sie war noch faszinierender, intensiver, radikaler als „Rheingold“ und vor allem als „Die Walküre“. Das ist Musik-Theater, bei dem beide Elemente gleichrangig sind, einander ergänzend, dann auch widersprechend. Dass diese Produktion das Publikum entzweit, in heftige Applaudierer und Buh-Rufer, ist klar.

Man muss aber auch diesfalls zunächst einmal erläutern, was „Siegfried“ szenisch so besonders macht: alles!

Überall Wotane

Was Castorf erzählt, hat auf den ersten Blick nichts mit dem Libretto zu tun. Bei näherer Betrachtung stimmen aber auch an diesem Abend die Relationen der Figuren zueinander, die tragischen Aspekte. Es gibt für Castorf nicht nur einen Wotan oder einen Siegfried – Figuren, denen es primär um Geld, um Erfolg, um Sex, um Macht geht, existieren zuhauf.

Der erste Aufzug von „Siegfried“ spielt auf einer Art Mount Rushmore, jenem Berg in South Dakota, in den die Antlitze der US-Präsidenten Washington, Jefferson, Theodore Roosevelt und Lincoln gehauen sind. Bei Castorf ist das freilich neu gedeutet: Man sieht die linken Denker bzw. Diktatoren Marx, Lenin, Stalin und Mao.

Mime davor, in seinem Wohnwagen, ist ein zerstreuter Intellektueller, eine Art Messi, der seine Bücher ständig durcheinanderbringt.

Einen Bären gibt es nicht, dafür einen Schauspieler, den man schon als Tankstellenpächter aus „Rheingold“ kennt. Er ist ein Sklave an der Leine, der auch schwarz angemalt wird. Ein starkes Bild für Unterdrückung.

Siegfried will aus dieser Welt ausbrechen. Er stürmt eine Stiege hoch und stößt auf verschlossene Türen. Darüber gibt es ein „S-Bahn“-Symbol, wie in der DDR. Eine Flucht ist unmöglich. Und Kommunismus ebenso wie Kapitalismus keine Lösung. Streng genommen erzählt auch der „Ring“ genau davon.

Kalaschnikow

Statt eines Schwertes schmiedet Siegfried eine Kalaschnikow, nimmt dann aber sicherheitshalber doch Nothung mit, falls der DDR-Plunder nicht funktioniert.

Als Kontrast zu diesem Berg gibt auf es der Drehbühne in dieser kontrastreichen, dialektischen Inszenierung den Berliner Alexanderplatz, offensichtlich postkommunistisch. Man befindet sich also, wenn man so will, in der DDR vor bzw. nach dem Mauerfall. Wotan und Siegfried sind dort heruntergekommene Gestalten im Kriminellen- und Zuhältermilieu. Wotan verhandelt den Lauf der Welt mit Erda, einer Art Puffmutter, bei Rotwein und Spaghetti.

Und Siegfried liefert sich mit Fafner, der kein Riesenwurm ist, sondern über das Geld und seine Models wacht, eine Schlägerei. In deren Verlauf erschießt Siegfried ihn mit Gewehrsalven.

Die Festspiele hatten auf dem Programmzettel vor der Lautstärke dieser Szene gewarnt. Ein Mann im Publikum übergab sich und erlitt einen Kollaps. Bald ging es ihm wieder besser. Nicht auszudenken, welche Diskussion über Regietheater losgebrochen wäre, wenn Schlimmeres passiert wäre.

Der Waldvogel ist eine Varietétänzerin, die von Siegfried vernascht wird. Für sie interessiert er sich viel mehr als für Brünnhilde, mit der er gleich nach deren Erweckung ein biederes Verhältnis führt. Sie öden einander an. Bei diesem „Ring“ hat nicht nur Alberich der Liebe entsagt, sondern auch Castorf.

Krokodile

Zwei Krokodile kommen und fressen eine Braut. Siegfried rettet diese wie in einem Comic und füttert die Tiere mit Brotresten. Das Krokodil kennt man aus Castorfs letzter Wiener Arbeit, „Der Spieler“. Hier geben sie der politischen Schwere eine humoristische Note.

Zwischen großer Dramatik und Leichtigkeit changiert auch Dirigent Kirill Petrenko mit dem exzellenten Festspielorchester. Er schafft es phänomenal, den dramaturgischen Bogen ebenso zu entwickeln wie feinste Details. Die Farbenpracht ist atemberaubend, die Differenzierung auch. Petrenko erzählt im Graben die Geschichte, die auf der Bühne nicht stattfindet, die aber deshalb so gut dazupasst, weil er mit den Sängern deren Typologien bestens kreiert. Er hat für jeden einen anderen Ton und zelebriert die reiche Motivik.

Lance Ryan als Siegfried mit Ketterln und anfangs im Pelzmantel, der aus Wagners Nachlass stammen könnte, forciert zu stark, hat manche Intonationsprobleme, erreicht aber dennoch hohe Intensität. Catherine Foster ist eine Mittelklasse-Brünnhilde, nicht sehr berührend. Wolfgang Koch besticht auch als Wanderer – er ist ein völlig neuer Wotan, weniger herrisch, sehr lyrisch, sicher in allen Lagen und mit ausreichend Kraft. Burkhard Ulrich ist ein etwas schriller Mime, Martin Winkler ein souveräner Alberich, Sorin Coliban ein profunder Fafner, Nadine Weissman eine fabelhafte Erda, Mirella Hagen ein süßer Waldvogel.

Nach der „Götterdämmerung“ wird sich auch Castorf dem Publikum stellen müssen. Man kann schon mal die Ohrenstöpsel herrichten.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Gert Korentschnig war telefonisch live zu Gast bei Radio Stephansdom. Seine "Siegfried"-Kritik zum Nachhhören:

In Bayreuth feiert gerade Kirill Petrenko einen Triumph beim „Ring“. Ab Herbst übernimmt er, unter der Intendanz von Nikolaus Bachler, die Stelle des Generalmusikdirektors der Bayerischen Staatsoper München. Dort wiederum leitet heute Kent Nagano seine letzte Aufführung als GMD – Wagners „Parsifal“. So weit, so gut. Und noch kein Grund, das Musikbusiness seltsam zu finden.

In München fand aber am Samstag auch eine Aufführung von Verdis „Requiem“ statt, dirigiert von Zubin Mehta. Am Sonntag leitete derselbe in München Verdis „Don Carlo“. Und am Montag die „Falstaff“-Premiere in Salzburg. Nun ist es sicher so, dass sich Mehta in München gut mit Verdi für Salzburg aufgewärmt hat. Man könnte aber auch die Frage stellen, ob da die Einzigartigkeit der Festspiele noch gewährleistet ist.

Diese Frage wird vor allem nötig, wenn man sich die Münchener „Don Carlo“-Besetzung anschaut. Es sangen: Jonas Kaufmann und Anja Harteros. Die beiden sind ab 13. 8. auch die Stars der Salzburger „Don Carlo“-Premiere (ebenso fünf Akte, ebenso auf Italienisch).

Alle Vorstellungen sind ausverkauft, an den Einnahmen ändert das also nichts. Aber künstlerisch ist es befremdlich, wenn nur 140 Kilometer von Salzburg entfernt zwei Wochen davor dasselbe (Traum-)Paar zu hören ist. London, wo sie das zuletzt gesungen hatten, ist wenigstens weiter weg.

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