Seidl-Film: Ein Stripper zum Geburtstag
Seit Margarethe Tiesel in Ulrich Seidls neuem Film „Paradies: Liebe“ (Kinostart: Freitag) eine Sextouristin spielte, zählt sie zur Oberliga: Für ihre Rolle als „Sugarmama“ in Kenia wurde die Schauspielerin neben Stars wie Kate Winslet für den Europäischen Filmpreis nominiert. Tiesel lebt in Graz, wo sie auch am Theater engagiert ist. „Paradies: Liebe“ ist ihre erste Filmhauptrolle.
KURIER: Frau Tiesel, Sie spielen eine Sugarmama. Was kann man sich darunter vorstellen?
Margarethe Tiesel: Ehrlich gesagt, wusste ich das beim ersten Casting auch nicht. Aber bei Ulrich Seidl sagt man einfach ja. Sugarmamas sind in Afrika sehr begehrte Frauen, die sich vor Ort einen Liebhaber, einen Beach Boy, suchen und finanziell unterstützen. Das bedeutet für viele Afrikaner die Existenzgrundlage.
Und was genau ist das „Paradies“, das Sie als Teresa beim Sexurlaub suchen?
Es ist die Sehnsucht einer Frau, unvoreingenommen geliebt zu werden. Sie sucht das Paradies bei einem Partner, der sie mag wie sie ist.
Das kann sie hier nicht finden?
Es ist einfach so, dass Frauen ab einem gewissen Alter keinen Marktwert mehr haben. Den hab’ ja ich schon nicht mehr (lacht. Anm.: Tiesel ist 53.)
Männer in meinem Alter suchen sich zumeist ja auch jüngere Frauen. Und diese Frauen machen es genauso. Ich denke mir, warum nicht? Ich kann es verstehen. Die Sehnsucht ist einfach sehr groß. Natürlich knirscht das irgendwie, aber verwerflich finde ich es nicht.
Sie sagen „Marktwert“: Mit Liebe hat das wenig zu tun, oder?
Natürlich, es ist ein Deal, der abgeschlossen wird. Man zahlt, dass man Liebe bekommt. Es ist auch sehr unterschiedlich: Manche Frauen sind total verliebt, manche fahren einfach nur wegen Sex hinunter. Wenn Männer das machen, regt sich keiner auf. Wenn Frauen das machen, herrscht großer Aufruhr.
Bekommen Sie viele empörte Zuseherreaktionen?
Es gibt immer wieder diese „Um Gottes Willen“-Reaktion. Ein älterer Herr beispielsweise stand nach einer Vorführung auf und meinte, so etwas wolle er nicht sehen. Ich glaube, dass Männer sich bedroht fühlen, weil sie merken, dass Frauen auf sie pfeifen, ihre Bedürfnisse woanders befriedigen. Aber diese Frauen sagen sich, dass sie hier keine Chance haben.
Wie sehen Sie das? Sie bringen auch viel Humor in Ihre Rolle ...
Der Humor war mir sehr wichtig. Ich dachte mir, ich mache das für Frauen, die auch ein bisschen dicker
sind und einen Hintern haben. Ich finde es schrecklich, dass man im Fernsehen immer nur junge, schlanke Frauen sieht. Da muss man als Frau ja verzweifeln, wenn das die einzigen Vorbilder sind. Und in Kenia herrschen andere Körperideale: Da gilt ein großer Hintern oder mehr Leibesfülle nicht als Makel.
Es gibt eine sehr provokante Szene, wo vier Frauen einen schwarzen Stripper demütigen. War das improvisiert?
Ja, alles. Es sind natürlich Rollen, die wir spielen. Aber dass wir sie so zugespitzt haben, kam vielleicht daher, dass einfach ein Spieß umgedreht wurde. Die eigene Verletzung wird dann weitergegeben. Aber es ist schwierig zu bestimmen, wer Opfer, wer Täter ist. Die Ausbeutung ist wechselseitig. Die Jungs wollen Geld, die Frauen Liebe – und solange das Geschäft läuft, funktioniert’s.
Wie war die Arbeit mit Ulrich Seidl? War es schwierig, an Grenzen zu gehen?
Natürlich, aber Ulrich Seidl schafft es einfach, dass man ihm vertraut. Ich hatte nie das Gefühl, dass er mich bloßstellen wollte. Aber alle reden immer von den Nacktszenen. Dabei gebe ich in meiner Rolle sehr viel von mir selbst her. Ich finde, dass man da nackter dasteht, als wenn man sich auszieht. In jedem Fall war es die tollste Arbeit, die ich je gemacht habe.
„Blunzengröstl“ und „Speckschwartl“ – wer das aussprechen kann, ist ein guter Österreicher. Der Kellner in Kenia tut sich damit ein bisschen schwer. Und die beiden Damen, die ihm diese Worte beibringen wollen, fallen dabei fast vom Barhocker vor Lachen.
„Paradies: Liebe“ – das ist für übergewichtige, nicht mehr junge Österreicherinnen der Strand von Kenia, wo sie sich von jungen Männern begehren lassen. Teresa, ganz hervorragend gespielt von Margarethe Tiesel, kann es sich zuerst gar nicht vorstellen, doch schließlich hat auch sie Sex mit den Beach Boys. Danach greift sie tief in die Geldbörse.
Ulrich Seidls erster Teil seiner „Paradies“-Trilogie, der heuer in Cannes Premiere hatte, zählt in seiner Freiheit und Offenheit zu den herausragenden Arbeiten im Werk des Regisseurs. Dabei besteht Seidls große Leistung darin, Frauen und Männer in ihren changierenden Rollen zwischen Opfer und Täter auszuleuchten, ohne moralisch zu bewerten. Er geht dabei auch hart an die Grenze des Erträglichen: Wenn vier betrunkene, halb nackte Frauen einen Kenianer als Geburtstagsüberraschung zum Strippen engagieren, ihm eine rote Schleife um den Penis binden und als Sex-Toy demütigen, dann werden Geschlechter- und Kolonialverhältnisse brutal transparent.
Die weiße, ältere Frau, zu Hause als unattraktiv abqualifiziert, dreht den Spieß um und labt sich am Herabwürdigen des schwarzen Mannes. Diese Form der „Selbstermächtigung“ allerdings ist gepaart mit Verzweiflung. Denn die Männer sind ebenfalls beinhart und stellen ihre Rechnungen. Gleichzeitig eröffnet Seidl neue Räume, folgt seinen Protagonisten in ihre Bars und Hinterzimmer und schafft ein Universum, in dem sich der Zuschauer frei bewegen kann. Meisterlich und provokant. (A. Seibel)
KURIER-Wertung: ***** von *****
INFO: Paradies: Liebe: Ö/D/F 2012. 120 Min. Von Ulrich Seidl. Mit Margarethe Tiesel, Peter Kazungu.
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