"Schwarzes Meer" - düstere Geschichte, lichtes Gebirge

Julia Kreusch arbeitet die Vergangenheit auf, Mikis Kastrinidis verkörpert die Zukunft
Irgendwie hört sich die Sache schon recht eigenartig an: Da hat eine in Zürich lebende Schauspielerin namens Irina Kastrinidis ihr erstes Stück, den Monolog „Schwarzes Meer“, geschrieben; und ihre Freundin Julia Kreusch, Ensemblemitglied am dortigen Schauspielhaus, möchte in der Uraufführung die Rolle der Eleftheria spielen. Sie wandte sich an Marie Rötzer, die Intendantin des Landestheaters in St. Pölten.
Und so kam es zu einer Konstellation wie vor drei Jahren, als Frank Castorf in Zürich „Justiz“ nach Friedrich Dürrenmatt realisierte – unter anderem mit Kreusch, seiner ehemaligen Lebensgefährtin Kastrinidis und dem gemeinsamen Sohn Mikis.
Doch der Text überzeugt: In einer rhythmisierten, an die Epen von Homer erinnernden Sprache verarbeitet die Autorin eine Liebesbeziehung, wohl jene mit Castorf, und die Geschichte ihrer Familie, die 1923 in der von den Siegermächten erzwungenen Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg aus der Türkei vertrieben wurde. Heute sind die Pontosgriechen, sofern sie die Deportationen und Todesmärsche überlebten, in alle Winde verstreut.
Kastrinidis bündelt ihre Erlebnisse in halb Europa assoziativ, sprunghaft, ja meisterlich zu einem ungeheuren Mahlstrom. Und Castorf tut alles, um die Sogwirkung zu verstärken. Er stellt sich nicht über den Text, er zertrümmert ihn nicht, er lässt ihn nicht runterratschen, nein, er nähert sich ihm mit einer ungeheuren, nicht bekannten Ernsthaftigkeit.
Castorf weiß zudem genau, wie er das Publikum bei Laune hält. Der zweieinhalbstündige Abend beginnt quasi mit einer Leseprobe an einem Tischchen: Kreusch rezitiert im Beisein des echten Regieassistenten Sebastian Schimböck den Text – noch sehr artifiziell. Doch nach und nach geht sie in der Rolle der Eleftheria (der Name bedeutet „Freiheit“) auf.
Heitere Tupfer
Dieser Prozess birgt viele heitere Tupfer. Weil eben der Assistent jeden Wunsch zu erfüllen und die Stimmung (etwa mit roten Luftballons) zu heben versucht, aber auch darauf hinweisen muss, dass Alkohol am Theater untersagt sei. Und dann mischt sich noch der „Star Wars“-Krieger ein, der von der Spitze des weißen Gebirgsmassivs im Hintergrund (von Aleksandar Denić aus Papierbahnen geschaffen) das „Land“ kontrolliert hat.
Er entpuppt sich als Sohn der Autorin, spielt wie natürlich mit. Aber auch „Irina“ schaltet sich ein: mit Minnie-Maus-Stimme will sie von „Julia“ wissen, wie es ihr denn gehe mit dem Text. Und Kreusch fragt, ob sie statt „Eleftheria“ und „Achilleas“ Klarnamen verwenden soll.
Waterboarding
Castorf hat also eine Parallelhandlung erfunden, die er bis zum Schluss durchhält. Aber nicht nur: Er hebt hervor, lockert auf, spitzt zu. Mikis Kastirinidis kommt mit einer Ziege auf die Bühne, er übernimmt Passagen, um Julia Kreusch zu entlasten, die sich völlig verausgabt und das Schicksal der Pontosgriechen am eigenen Leib erleidet – etwa mit einer heftigen Waterboarding-Szene.
Die Beklemmung steigert sich unaufhörlich, Castorf setzt schließlich auch Video ein. Der Berg beginnt von innen zu leuchten, dann wird es allmählich dunkel. Der Kasperl in der Hand von Kreusch irrt sich übrigens: Alle sind gebannt sitzen geblieben. Ein großer Abend.
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