Frank Castorf: „Ich will ’ne offene, streitende Gesellschaft“
Frank Castorf streckt zur Begrüßung wie selbstverständlich die Hand aus. Coronaleugner ist er keiner, ein Sturschädel aber sehr wohl. Und so steht der Regisseur mit der Berliner Schnauze zu seinem Satz aus dem April 2020: „Ich möchte mir von Frau Merkel nicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss.“ Denn schon seine Großmutter hätte ihm als Bub beigebracht, reinlich zu sein.
Es geht ihm um die Verhältnismäßigkeiten der Maßnahmen. Und es sei ein Problem, dass wir zu viele unserer Freiheiten aufgegeben hätten: „Ick komm’ ja aus’n Osten, und deshalb merk ich die Bevormundung.“ Er hätte sie damals, in der DDR, nicht akzeptieren können – und könne sie auch jetzt nicht akzeptieren. Viele Menschen hängen am Tropfe des Staates. „Und jetzt heißt es: Ihr braucht nicht mehr so individuelle Freiheiten! Ick kann nur sagen: Wehret den Anfängen! Ich will ’ne offene, streitende Gesellschaft – im Parlament, aber auch außerhalb.“
Aber er sei schon auch ein Opportunist. Denn er ließ sich impfen. „Und so kann ich zu meiner Freundin nach Paris fliegen und zu meinem Sohn nach Zürich. In dem Sinn bin ich auch ein Maulheld, der nicht immer konsequent macht, was er sagt. Aber anders zu denken, muss möglich sein. Und das auch auszusprechen. Ich bin zu alt, um die Freiheit des Denkens und Redens aufzugeben.“
„Das impliziert Fehler“
Er sei, sagt Castorf, in erster Linie Künstler und habe das Recht zu denken, wie es ihm dünkt. „Das impliziert Fehler – das ist ja janz logisch.“ Doch zu zweifeln, sei richtig. Und dann erinnert er nicht nur an die Französische Revolution und die Aufklärung: „Blaise Pascal hat alles Wesentliche infrage gestellt! Solche Sachen gehen mir halt durch den Kopf.“
Und ihm geht viel durch den Kopf, er schweift assoziativ ab, kommt nebenbei auf unhaltbare Vorurteile gegenüber Polen zu sprechen, dann auf den Wiederaufbau in der BRD, die auch deshalb so erfolgreich gewesen sei, „weil es jenseits der Grenze den Kommunismus und die sowjetische Bedrohung als Gesellschaftsmodell gab“.
Der eigentliche Grund für das Treffen in einem lieblos eingerichteten Besprechungsraum ist eine weitere Castorf-Premiere: Der ehemalige Intendant der Berliner Volksbühne (er sagt, er hätte sie aus seinem Gedächtnis gestrichen) bringt einen komplexen Monolog seiner ehemaligen Lebensgefährtin Irina Kastrinidis mit dem Titel „Schwarzes Meer“ zur Uraufführung – heute, Samstag, am Landestheater St. Pölten.
Gut, Frank Castorf mag Österreich, den Schmäh, die Gastro und die Lieder von Georg Danzer. Er inszenierte 2021 an der Staatsoper („Faust“), an der Burg („Zdeněk Adamec“), am Akademietheater („Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“). Der Abstecher nach St. Pölten verblüfft aber doch etwas.
„Mit Qualität bedienen“
Julia Kreusch wollte den Monolog spielen, sie wandte sich an Marie Rötzer, die Intendantin. So kam das Projekt zustande. Und auch im klein dimensionierten Landestheater ist großes Castorf-Theater möglich: ohne Drehbühne, aber mit Video (um Emotionen hautnah miterleben zu können). Wie bei den drei Premieren in Wien entwarf Aleksandar Denić das Bühnenbild und Adriana Braga Peretzki die Kostüme.
Vielleicht ist diese Inszenierung auch eine Einübung ins Unvermeidbare – „wenn nicht mehr viele Theater in der bisherigen Gigantomanie weitermachen können: Das wär nicht schön, aber denkbar. Und dann muss man auch ein Zimmertheater mit Qualität bedienen können, den Beruf mit Freude ausüben.“ Und Castorf sieht auch im vergleichsweise geringen Personalaufwand einen Vorteil: „Je weniger mitspielen, desto kürzer wird es. Denn mit jedem Akteur verlängert sich ein Abend um eine halbe Stunde.“ Weil es eben Solos gibt, weil Castorf für jede und jeden „einen Maßanzug zu kreieren“ versucht: „Das ist nicht Massenware! Das ist exklusiv!“
Neben Julia Kreusch spielen Mikis Kastrinidis, der Sohn von Castorf und der Autorin, und Sebastian Schimböck mit. Und ein Tier. Sorgte bei „Lärm“ Schwein Edmund für Unterhaltung, so kommt nun Ziege Peter zum Einsatz. „Man kann einem Tier nicht sagen: ,Das Stichwort ist jetzt gekommen, komm, reagiere!‘ Es macht, was es will – wie auch das Kind. Und da müssen wir wie im Free Jazz miteinander spielen. Es soll etwas Neues entstehen.“
„Rassisch reine Türkei“
Auch inhaltlich gibt es Anknüpfungen an „Lärm“. Im Prinzip aber geht es um die Vertreibung der Pontos-Griechen durch die Türken (und damit um das Schicksal der Familie von Irina Kastrinidis): Dieses Unrecht mit Millionen an Opfern ist bis heute nicht aufgearbeitet. Weil, wie Castorf meint, die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg bei der Aufteilung des Osmanischen Reiches in erster Linie geopolitische Interessen verfolgt und die Türkei unter Kemal Atatürk als Pufferzone gesehen hätten: „Man brauchte diesen Mann, der eine – wenn man so will – rassisch reine Türkei geschaffen hat.“ Castorf zieht daher Analogien zum Nationalsozialismus. „Und weil Irina keine Türkenhasserin ist, stellt sie die Frage: Wie gehen wir damit um?“
Aber es geht auch um manch Anderes: „Irina hat viel von mir gesehen, und das hat sie geprägt hinsichtlich des Assoziativen, des Springens, des Redens von sich.“ Vieles, was im hohen Ton des Epos anklingt, ist autobiografisch: Kastrinidis verarbeitet in ihrem ersten Stück Erlebnisse in Athen, Berlin, Zürich, am Meer.
Und weil das alles doch seine Zeit braucht, hat das Landestheater den Beginn auf 19 Uhr vorverlegt. Damit Castorf nicht die Sperrstunde crasht.
In der DDR: 1951 in Berlin Ost geboren, machte er zunächst eine Ausbildung bei der Deutschen Reichsbahn, danach studierte er Theaterwissenschaft. Er war u. a. Dramaturg am Bergarbeitertheater Senftenberg – und ab 1981 Oberspielleiter in Anklam. Dort fing er an, „radikales Theater zu machen – Gott sei Dank mit der entsprechenden Reaktion der Staatsorgane der DDR“.
Noch vor der Wende 1989 durfte er im Westen arbeiten
Volksbühne Berlin: Er war von 1992 bis 2017 Intendant der Berliner Volksbühne. Viele seiner collageartigen, zumeist sehr langen Inszenierungen – Castorf gilt als Stückezertrümmerer, der sich aus den Vorlagen herauspickt, was ihn interessiert – hatten bei den Wiener Festwochen Premiere. 2013 inszenierte er in Bayreuth Richard Wagners „Ring des Nibelungen“
Der Reisende: In den letzten zwei Jahren kamen zehn Produktionen heraus, u. a. „Boris Godunow“ an der Staatsoper Hamburg und eine Molière-Revue in Köln. Nun folgen „Wallenstein“ in Dresden und „Die Göttliche Komödie“ in Belgrad. Castorf hat sieben Kinder von fünf Frauen
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