Das neue „Stück“ ist natürlich wieder eine gewaltige Textfläche, es gibt jedoch, rudimentär zumindest, Szenenanweisungen: Ein Schweineballett tritt auf und tanzt die Krankheit, wenig später hüpfen die Tiere ab. Aber „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ ist kein gewaltiger Text. Die Sprachspielereien der Nobelpreisträgerin gehen über Doppelbedeutungen von Wörtern wie „Platte“ (Schall- und Schlachtplatte) nicht hinaus. Und dass man sich „mit den Beschäftigungslosen beschäftigen“ muss, „die sonst keinen beschäftigen“: Das klingt nicht sonderlich elaboriert.
Jelinek hat bloß den Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 und die Folgen für sich im Live-Ticker kommentiert. Das Brotbacken kommt vor, die Quarantäne in Sweatshirts, der Mundnasenschutz, das Kitzloch, die Superzerstäuber, die Atemlosigkeit, der Kurz und die Kurzarbeit, die abstrusesten Verschwörungstheorien und so weiter.
Jelinek macht auch kein Hehl daraus. Denn sie stellt gleich klar, dass man ihr beim Nachreden zuhört. Sie schlage die Zeitung auf und schreibe sie ab. Sie habe – Jelinek beweist immer Selbstironie – all das Gerede „abgekupfert und dann mit Gold überzogen“, damit es „was wert wird“. Dennoch: „Ich kann mir nichts erklären, was nicht andre schon erklärt haben.“
Und so hat Jelineks Text vielleicht einmal jene Bedeutung, die wir zu Beginn der Pandemie Daniel Defoes „Die Pest zu London“ und „Die Pest“ von Albert Camus beigemessen haben. Aber just in einer Zeit zwischen zwei Wellen, in der wir uns noch so gut an die Versprechungen vom Licht am Ende des Tunnels erinnern? Eher nein. Das dürfte auch Frank Castorf klar gewesen sein. Für die österreichische Erstaufführung, die keine ist (jedenfalls nicht des Jelinek-Textes), pickte er sich ein paar herummäandernde Gedanken heraus: über die industrialisierte Schweineverarbeitung – und dass Kirke die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelt und in einen Koben gesteckt hat.
Castorf also stellte den zehnten Gesang der „Odyssee“ ins Zentrum seiner Inszenierung und reicherte diese mit viel Fremdmaterial an, darunter Fahim Amirs „Schwein und Zeit“ oder Max Horkheimers Skizze „Der Wolkenkratzer“ (eine Gesellschaftspyramide inklusive der Tiere). Und weil es keinen Plot im eigentlichen Sinn, keine Entwicklung und auch keine Erkenntnisse gibt, gastiert eben der Zirkus von Franco Castorfi in der Stadt – samt dem herzig grunzenden Schwein Edmund als heiteres Highlight.
Aufgeboten wird mächtig viel: gackernde und blinde Hühner, Video-Close-ups auf gespreizte Beine, bombastische Musik von William Minke und so weiter. Aleksandar Denić hat für das kunterbunte, mitunter lähmend lange Treiben eine anspielungsreiche Bühne ersonnen: Über einer im Lilienmuster austapezierten Höhle mit Trapez, dem ehernen Hohlkopf eines Kriegers, kreist unentwegt in Neonbuchstaben „Einer für alle, alle für einen“ (auf Französisch), und auf einem Verschlag liest man die Warnung, dass Gehen wegen der „Nouvelle Vague“, der neuen Welle, verboten sei. Darunter befindet sich ein Kellerverlies mit Bananenschachteln. Eine barocke Balustrade, ein Bankomat, ein fast obligatorisches Coca-Cola-Logo und ein Hau den Lukas vervollständigen diesen Rummelplatz.
Branko Samarovski giert als kranker Herrscher nach Sauerstoff und gibt zwischendurch einmal den Zirkusdirektor, Andrea Wenzl ist als Varieté-Girl mit blonder Perücke und viel Federnschmuck eine Ersatz-Kathrin-Angerer.
Dörte Lyssewski darf als mondäne Elfriede-Jelinek-Diva erscheinen, Marcel Heuperman imponiert schweißtriefend mit Pappmaché-Kurz-Kopf, güldener Schweine-Maske oder als eruptive Monster-Hand. Auch Mehmet Ateşçi und Marie-Luise Stockinger werfen sich in allerlei Kostümen (von Adriana Braga Peretzki) mit Verve in die Materialschlacht auf leergedroschenem Stroh.
Am erfrischendsten sind jedenfalls jene Momente, in denen die Schauspieler aus ihren Rollen fallen – und miteinander keppeln. Ist zwar auch ein alter Castorf-Trick. Aber er funktioniert noch immer, wenn Lyssewski Samarovski vorwirft, er hätte immer auf ihre Beine gestarrt.
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