Haug nahm die Herausforderung, einen Theaterabend mit einer Textvorlage zu entwickeln, an. Im Raum gestanden sein soll ein Stück von Kleist. Nicht ohne Grund: Für diesen Sommer inszenierte Ulrich Rasche „Nathan der Weise“. In dem dramatischen Gedicht geht es um eine Christin, die nicht von ihrem leiblichen Vater, sondern von einem Juden aufgezogen wurde. Doch schon bald, so liest man im Probentagebuch von Haug, fiel die Wahl auf Bertolts Brecht „Der kaukasische Kreidekreis“.
Es gibt durchaus Parallelen: Aufgrund einer Revolution lässt Natella, die Frau des Gouverneurs, Michel zurück. Grusche nimmt sich dessen an. Später verlangt die Fürstin den Sohn zurück, aber das Küchenmädchen, das sich unter Lebensgefahr um das Kind gekümmert hat, will es nicht hergeben. Es braucht eine salomonische Lösung. Richter Azdak lässt einen Kreidekreis aufmalen: Wer es vermag, das Kind aus diesem zu sich zu ziehen, soll das Sorgerecht erhalten. Doch Grusche lässt den Arm von Michel los: Sie will ihm kein Leid zufügen.
Haug gelingt als Beweis eine hinreißende Metapher: Simone Gisler als Grusche und Tiziana Pagliaro als Fürstin reißen an einer „Weihnachtsbombe“ – bis diese, leise krachend, in zwei Fetzen zerbricht. Die Versuchsanordnung wird daher wiederholt. Und Grusche bekommt das Kind. Nicht weil sie die Mutter, sondern die mütterlichere ist. Doch wurde richtig entschieden?
Bereits im November 2022 kam Remo Beuggert – er spielt den Richter – bei einer ersten Besprechung auf die naheliegendste Lösung: Er würde das Kind fragen. Gesagt, getan! Und so werden Robin Gilly als Michel von den zwei Frauen Angebote gemacht. Die eine bietet Geborgenheit, die andere Luxus.
Auf die logische Idee, dass sich die Frauen zusammentun und das Kind gemeinsam erziehen, kommt man in dieser Inszenierung, die am Samstagabend in der Szene Salzburg ihre Uraufführung erlebte, nicht. Nein, man macht immer wieder eine neue „Probe“ aufs Exempel. Das hat zwar den Vorteil, dass fast alle Facetten des Brecht-Stücks (abgesehen von der Rahmenhandlung) abgearbeitet werden. Aber der Abend, mit 100 Minuten angekündigt, ufert aus und dauert schließlich mehr als zwei Stunden.
Dem beherzt agierenden, ein amüsantes Schwyzerdütsch sprechenden Ensemble ist kein Vorwurf zu machen. Willig setzen die Schauspieler um, was ihnen ins Ohr geflüstert wird. Und Remo Beuggert stemmt den Abend geradezu bravourös. Er ist Spielleiter, Erzähler und Kommentator, er hat Unmengen an Text zu bewältigen, er treibt auch seine Kolleginnen an, wenn diese sich zu verzetteln drohen.
Als Rückgrat im Hintergrund fungiert Minhye Ko mit ihrem Schlagzeug- und Marimba-Spiel: Begeistert macht man auch gemeinsam Musik – jeder in seinem Rhythmus. Minhye Ko entwickelt zudem live einen komplexen Loop. Er untermalt geschickt eine viertelstündige Aktion, kann aber nicht verhindern, dass der Abend mit dieser auseinanderbricht. Es wäre sinnvoller gewesen, die Verteilung eines Buches mit den Selbstporträts der Schauspieler an den Schluss zu legen. Denn man hatte die Bücher wieder zurückzugeben – und musste die Texte daher hastig lesen.
Robin Gilly zum Beispiel gibt von sich preis: „Was macht mich speziell? Dass ich ein Downsyndrom bin. Mich stört das eigentlich nicht. Ich bin es halt.“ Gerne hätte man sich in Ruhe mit den Biografien auseinandergesetzt. Und im Endeffekt war dann doch die Zeit zu kurz, um die entscheidenden Fragen zu erörtern: Hätte Grusche auch ein krankes Kind aufgezogen? Oder hätte die Fürstin auch ein Kind zur Welt gebracht, das nicht ihren Wünschen entspricht? Helgard Haug wollte mit ihrem Team, darunter Marc Jungreithmeier (Video, Licht und Kinetik), leider zu viel. Der Jubel war dennoch groß.
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